Eine kleine Contact Tracing To Do Liste

Corona, COVID, CWA, Luca, Contact Tracing

Bianca Kastl

Oder die komplizierte Frage: Was muss eigentlich getan werden, damit mit digitalen Tracinginformationen Infektionsketten unterbrochen werden können?

Es folgt: der Versuch zu erklären, warum Gästelisten aus Contact Tracing Apps nicht automatisch Infektionsketten brechen. Eine Trägödie in drei Akten, dies ist ihr zweiter Teil: Die Datenmenge schlägt zurück.

Zum genaueren Verständnis dieses Artikels zum Thema Infektionen sei auch der letzte Artikel empfohlen.

August 2021, Tag 518 der Pandemie

Verwundert lesen wir vielleicht heute die Erkenntnnis: «Gesundheitsämter schon wieder am Limit? Huh? Aber ich dachte digitale Kontaktnachverfolgung und SORMAS und Luca sollte doch alles besser machen? Außerdem sind jetzt viele geimpft?»…

Die folgenden Tätigkeiten, Probleme und Überlegungen haben allesamt mit dem Bereich Datenerfassung von Fällen oder deren Kontaktpersonen zu tun. Wir werden im Folgenden erkennen, dass da noch viel zu tun ist:

Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis

Es folgt ein Beispiel hier aus Flensburg oder Neumünster: Ämter schon wieder am Limit

Wir rechnen mal nach: Neumünster kommt Stand Anfang August auf eine Inzidenz von 80. 80 als 7 Tage Inzidenz klingt viel, sind in Neumünster bei 80.000 EW in der Woche mehr als 60 Fälle auf die Woche gerechnet.

Wir finden auf dem RKI-Dashboard 67 in der letzten Woche. Der Einfachheit halber gehen wir mal vom 3.8. als Arbeitstag im Gesundheitsamt aus mit 10 Fällen.

Fallerfassung

Jeder dieser 10 Fälle hat ein Testergebnis zur Bearbeitung, muss kontaktiert werden, dort wird der aktuelle Gesundheitszustand, Vorerkrankungen und das Umfeld erfasst und es geht dann in die Kontaktnachverfolgung.

Wir gehen mal den möglichen Ablauf eines Falles durch. Es folgen dazu fiktive Telefongespräche, die zeigen an welchen Stelle eine Datenerfassung stattfindet. Um dem Fake-Charakter vorheriger Gästelisten Sorge zu tragen, gehen wir mal davon aus, dass Darth Vader infiziert ist.

Donnerstag vormittag auf Mustafar

Grafik mit einer dunklen Darth Vader Maske, die mit einer Person im Gesundheitsbereich telefoniert

Es folgt Telefonat Nummer 1:

Guten Tag, Gesundheitsamt Mustafar hier, sind sie Anakin Skywalker? Ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Corona-Test positiv war. Ich müsste mit Ihnen ein paar Details durchgehen. Wie gehts Ihnen den gerade?

In diesem Moment erschrickt Darth Vader leicht, erkennt aber, dass das Gesundheitsamt ja auch seinen richtigen Namen kennt, unabhängig davon, ob er sich irgendwo mit seinem Künstlernamen Darth Vader eingetragen hat. Falsche Daten bei PCR-Tests gibt es meist selten, meist sind dann die Daten in Praxen oder Testzentren falsch übermittelt worden oder die Daten auf der Krankenkassenkarte stimmen nicht.

schweres Röcheln Woher wissen sie? Äh nun gut, also äh, ich äh, die Macht ist stark in mir.

Nun Herr Skywalker, das war nicht meine Frage, haben sie gerade vielleicht Atemnot? Geschmacksverlust? eingeschränkten Geruchssinn?

In dem Moment würde in dem fiktiven Szenario auffallen, dass Vader schon ein paar aktuelle Symptome und so ein paar Vorerkrankungen hat. Das wären relevante Daten, die von einer Indexperson erfasst werden müssten.

Nun gut, Herr Skywalker, können Sie uns sagen, wen Sie im Zeitraum von Montag bis Mittwoch getroffen haben? Können Sie uns dazu noch ein paar Details zu den jeweiligen Treffen sagen? Trugen Sie Maske, wie eng war ihr Kontakt?

Ich trage immer Maske. Da gabs so ein Drama damals mit Obi-Wan. Längere Geschichte…

Darth Vader wäre ausnahmsweise in dem Kontext ein Vorbild, da er quasi immer Maske trägt, sich seinem Gegenüber eh nicht wirklich nah nähert und Handschuhe trägt er auch noch.

Mir scheint, als hätten Sie sich wirklich vorbildlich ihrem Gegenüber verhalten, Herr Skywalker. Aber waren sie nicht irgendwo auswärts in der Zeit seit Montag? Haben sie wen getroffen?

Naja, gut, ich war in Chalmuns Cantina einen trinken am Dienstag. Ich hab noch 10 Personen getroffen, unter anderem Offizier Piett.

Aus diesem fiktiven Szenario hätten wir zumindest eine Kontaktperson mit der wir dann weiter arbeiten können. (Irgendwo bricht das Star Wars Szenario von der Logik her ganz arg bestimmt, aber das sei mir verziehen.)

Und wie ist das jetzt mit der Impfung bei einer erkrankten Person?

Impfungen und die dafür notwendigen Informationen sind ein Datenpunkt bei erkrankten Personen. Es ist aber unerheblich, ob die Person geimpft ist oder nicht für die grundsätzliche Nachverfolgung, die Person ist nun mal erkrankt.
Erkrankte Personen sind auch weiter zu isolieren, denn sie sind ja ansteckend. Und da sind auch geimpfte, aber erkrankte Personen nun mal auch ansteckend.
Schon einmal genesene Personen, die wieder erkranken, ebenso. Falls ihr euch fragt, wie bei geimpften Personen überhaupt auffällt, dass diese erkranken: nun ja, auch bei Geimpften gibt es vielleicht Erkrankungssymptome, weswegen Menschen zur Ärzt:in gehen und sich testen lassen. Und der Test kann positiv sein und so erkennt man so Fälle: geimpft, aber erkrankt, aber symptomatisch. In dem Fall wäre das ein klassischer Impfdurchbruch.

Wir halten fest: Impfungen ändern bei der Fallerfassung nichts, stellen vielmehr einen weiteren Datenpunkt dar, der für die Erfassung von Fällen berücksichtigt wird.
Es ist aber letztendlich ein Datenpunkt, der aber nichts an den Maßnahmen für eine erkrankte Person ändert. Denn letzten Endes sind Impfungen ja primär Selbstschutz, aber mögliche Ansteckungen im Falle einer Infektion unterbinden Impfungen ja leider nicht vollständig.
Aber darum soll es hier nicht gehen, ich verweise dazu auf andere Zusammenfassungen.

Ja aber, geht das nicht besser mit den Fällen?

Der Prozess der Fallerfassung in den meisten Szenarien - unabhängig von der verwendeten Software zur Kontaktnachverfolgung – eigentlich schon relativ gut voll digitalisiert. Testergebnisse kommen über DEMIS, erhalten in den meisten Szenarien schon alle korrekten Personendaten.
Individuelle Parameter wie den aktuellen Gesundheitszustand, Impfstatus oder Vorerkrankungen müssen zwar telefonisch bei der infizierten Person erfragt werden, da es dazu keine aktuelle Aktenlage gibt. Wie es der Person gerade eben geht und wie der Impfstatus gerade eben ist, ist ja eine sehr tagesaktuelle Information. Personenbezogene Informationen zur Indexperson selbst ließen sich durch ein digitales Onboarding vielleicht verbessern. Aber das ist aber nur ein Datensatz pro Nachverfolgungsvorgang, bei dem sich eine Verbesserung des Prozesses positiv auswirken könnte – vorausgesetzt, eine Person kann überhaupt am digitalen Prozess teilnehmen.

Wir stellen fest: bei der Fallerfassung ändert eine hohe Durchimpfung der Bevölkerung und eine zusätzliche digitale Unterstützung der Datenerfassung leider wenig. Die Zahl der Fälle allein ist auf ein Gesundheitsamt gesehen nicht das Grundproblem. Jeder Fall allein zieht zumindest einen planbaren Aufwand nach sich.

Wie das generell technisch funktioniert, habe ich schon mal unter der Schnittstellenlage genauer beschrieben.

Kontaktpersonenerfassung

Nun ist der Prozess, den ich hier beschreibe ja der Prozess der Kontaktnachverfolgung. Kommen wir zum Knackpunkt der ganzen Geschichte: enge Kontaktpersonen.
Die Zahl der Kontaktpersonen aber ist auf ein Gesundheitsamt gesehen der Arbeitsaufwand, der so stark ins Gewicht fällt.
Eine infizierte Person hat ja vielleicht in dem Zeitraum vor ihrem Test eine gewisse Menge Kontaktpersonen getroffen. Und genau die sind ja wichtig, weil diese engen Kontaktpersonen ja einem Infektionsrisiko ausgesetzt waren, von dem sie vielleicht gar nichts wissen.

Wie viele Kontaktpersonen pro Fall?

Die Zahl der engen Kontaktpersonen pro Fall variiert stark. Das liegt einerseits an individuellen Parametern – in Schulen oder Kindergärten gibt es wahrscheinlich mehr Kontakte per se. Es liegt aber auch stark an gesellschaftlich solidarisch umgesetzten Einschränkungen.
Erfahrungswert aus Welle 2 zu Beginn und in der Hochphase: Die durchschnittliche Zahl der Kontaktpersonen liegt in Niedriginzidenzphasen etwa bei durchschnittlich bei 10 oder mehr. In Hochinzidenzphasen mit Gegenmaßnahmen geht das dann zwar runter, es gibt aber immer noch Kontaktpersonen nachzuverfolgen.
In nachvollziehbaren Wert bei einer Inzidenz von 180 kann ich mal erfahrungsweise bei knapp 4 Kontaktpersonen pro Fall angeben. Das ist aber ein guter Wert, bei dem ein Amt in so hohen Inzidenzen überhaupt noch funktioniert hat. Dirk Paessler hat das hier mal versucht zu plotten, leider ist die interaktive Auswertung nicht mehr verfügbar.

Die durchschnittlich erfassten Kontaktpersonen pro Fall verhalten sich auch stark individuell je nach Gesundheitsamt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Landesverordnungen stark variieren und andererseits hängt es auch mit der Eindämmungsstrategie und den generellen Ressourcen eines Gesundheitsamts zusammen. Außerdem gibt es oftmals eine Datenlücke: Nicht alle Gesundheitsämter veröffentlichen diese Zahl, es ist auch eine politische Zahl, die Rückschlüsse darauf zulässt, ab welchem Punkt der Betrieb in einem Amt nicht mehr so ganz funktioniert.

Wie viel Arbeit ist eine Kontaktperson?

Im Arbeitsablauf ist eine Kontaktperson vom Aufwand eigentlich immer sehr ähnlich:
Kontaktperson ermitteln (entweder vom Fall genannt bekommen oder von einer Gästeliste / Klassenliste / etc), Person kontaktieren und deren Details verifizieren.
Im Prinzip wissen manche Personen vielleicht durch die Indexperson bereits, dass sie kontaktiert werden. (In Berlin informieren zum Beispiel die Fälle die Kontaktpersonen). Im Normalfall gibt eine Person aber erst in dem Moment als offiziell abgesondert und in Absonderung, wenn ein Erstkontakt durch ein Gesundheitsamt stattgefunden hat, meist per Telefon, selten per E-Mail. Erst in dem Moment gab es eine offiziell verbindliche Aufforderung, sich in Quarantäne zu begeben, der Folge zu leisten ist.

Donnerstag nachmittag auf Mustafar

Es folgt Telefonat Nummer 2, Telefonat mit Offizier Piett:

Guten Tag, Gesundheitsamt Mustafar hier, sind sie Offizier Piett? Ich muss Ihnen mitteilen, dass sie enge Kontaktperson einer an Corona erkrankten Person sind. Das heißt, dass Sie sich jetzt abzusondern haben für die nächsten 14 Tage.

Sorry, ich muss noch nen Sternenzerstörer navigieren

Keine Diskussionen, der Zerstörer hat nen Autopiloten, sie gehen jetzt in Quarantäne. Unverzüglich.

So oder so ähnlich wäre die Ansage an die jeweiligen Kontaktpersonen. Meist folgt dann noch eine Befragung zu aktuellen Symptomen, Details zu persönlichen Daten und zum weiteren Umfeld. Ein Gespräch, was sich so oder ähnlich bei jeder Kontaktperson wiederholen könnte. Vielleicht hundertfach am Tag.

Warum braucht es eigentlich diese offizielle Kommunikation durch Gesundheitsämter? Könnte man nicht alle einfach in Quarantäne setzen?

«Enge Kontaktpersonen müssen sich unverzüglich nach der Mitteilung durch die zuständige Behörde…»
So beginnt etwa der entsprechende Satz in der Corona-Absonderungsverordnung in Baden-Württemberg. Rechtlich braucht es also aktuell eine Mitteilung durch eine Behörde, damit eine Absonderung rechtskräftig gilt.
Das mag aus digital nerdiger Sicht etwas umständlich wirken, nur ist für viele Menschen, die nicht einfach so im Home Office arbeiten können und mal kurz «halt mal ein paar Tage zuhause bleiben können» der offizielle Bescheid wichtig.
Auch wenn er in der Praxis vorläufig erst einmal telefonisch erfolgt, ist eine offizielle Absonderung wichtig, um überhaupt eine Freistellung vom Arbeitsplatz und eine spätere Entschädigung nach §56 IfSG zu erlangen.
Jede Quarantäne kostet nämlich Geld. Arbeitsleistung muss ja ersetzt werden, Menschen haben ja währenddessen eigentlich ein Tätigkeitsverbot und oftmals können Tätigkeiten nicht einfach so vom Home Office weiter ausgeübt werden.
Die Tatsache, dass jede Quarantäne Geld kostet, erklärt auch, warum Gesundheitsämter nicht einfach so leichtfertig massenhaft Personen absondern. Zumal jede Quarantäne ja auch immer mit Einschränkungen der persönlichen Freiheiten einhergeht, die gut begründet werden wollen.

Kritische Zeiten zum Brechen von Infektionsketten

Für das Brechen von Infektionsketten ist das relevante messbare Zeitintervall die Strecke Abstrich der Indexperson zu erster Kontaktaufnahme der Kontaktperson. Nur wenn dieser Prozess schnell genug von statten geht, gibt es überhaupt eine Chance, Infektionsketten zu brechen.
Nun gibt es bei Corona-Infektionen eine gewisse Latenzzeit, einen Zeitraum von ein paar Tagen, wir gehen mal von 2 bis 3 Tagen aus, grafisch dargestellt u.a auf diesem Schaubild.

Darstellung von Infektionsgenerationen. Generation 1 infiziert nach 4 Zeiteinheiten nach Infektion eine weitere, hat 2 Zeiteinheiten später Symptome und lässt sich 1 Zeiteinheit später testen. Generation hat einen ähnlichen Verlauf und kann potenziell eine weitere Generation anstecken
Angenommen, eine möglicherweise bereits infizierte Kontaktperson wird im Zeitraum der eigenen Latenzzeit von 2 bis 3 Tagen erreicht, ist diese noch nicht infektiös und wäre bereits isoliert, bevor sie andere Personen anstecken kann. Eine weitere Ausbreitung wäre unterbunden. In der Praxis geht das meistens nicht ganz auf, denn bei COVID spielt noch ein anderer Effekt in der Übertragung negativ auf diese Kette ein: Die Inkubationszeit ist länger als die Latenzzeit (5 bis 6 Tage), es ist mit der aktuell vorherrschenden Delta-Variante davon auszugehen, dass diese Zeit sogar noch geringer ist, eher 4 Tage. Das heißt, dass Personen erst Symptome verspüren, wenn sie schon ansteckend sind.

Und das wiederum heißt dann, dass es einen infektiösen Zeitraum von 1 bis 3 Tagen gibt, ein denen eine Person ohne wahrnehmbare eigene Symptome andere Menschen anstecken kann.
Wir stellen fest: das wird zeitlich echt alles sehr knapp. Knapper wird das dann auch noch durch die Tatsache, dass ein PCR-Test einen Tag Verzögerung in den Prozess bringt und Menschen ja selten zügig bei Symptomen zum Arzt gehen.
Kontaktnachverfolgung erreicht also selbst unter idealen Verhältnissen Kontaktpersonen der Generation 1 gerade so rechtzeitig, so dass diese selbst ihre noch unentdeckte Infektion nur beschränkt weitergeben können. Oder anders formuliert: wenn diese ersten Kontakt-Prozesse in einem Gesundheitsamt nicht am Tag des Testeingangs abgeschlossen sind, entsteht vielleicht durch infizierte Kontaktpersonen eine weitere Generation von Infektionen. Gute Kontaktnachverfolgung verhindert also idealerweise eine Generation 2 und isoliert eine Generation 1 einer Infektionskette. Schlechte Kontaktnachverfolgung rennt weiteren Ketten einfach so hinterher.

Skaliert das?

Die Kontaktaufnahme von Kontaktpersonen in Gesundheitsämtern ist ein eher sehr schlecht skalierender Prozess. Geschieht dieser Prozess per Telefon ist der Prozess Unicast, heißt es geht immer nur ein Telefonat gleichzeitig pro Mitarbeiter:in im Amt und alle Personen können nur nach und nach abtelefoniert werden.
Per E-Mail wäre eine Option, aber da ist das Problem aber halt auch die garantierte und schnelle Erreichbarkeit der Person. Außerdem gibt es in allen digitalen Prozessen immer das Problem, dass dieser auch digital nicht so gut angebundene Teile der Bevölkerung schnell erreichen können muss.
Es bleiben also immer ein paar Telefonate übrig, auch wenn E-Mail oder vielleicht SMS hier wie eine einfache Broadcast-Lösung für Gesundheitsämter wirken mag. Dieses Problem wird mit mehr Fällen und daraus resultierenden Personen mit unterschiedlichen Möglichkeiten, diese überhaupt erreichen zu können, auch wieder nicht besser.

Sind das denn so viele Kontaktpersonen?

Durchaus. Ein Rechenbeispiel: bei einer 7-Tage-Inzidenz von 21 gibt es bei einem fiktiven Landkreis mit 100.000 EW 3 Fälle pro Tag. Das verteilt sich je nach Wochentag natürlich nicht gleich, aber wir gehen mal der Einfachheit halber davon aus. Bei angenommen Relation von 10 Kontaktpersonen pro Fall wären es 30 zu erreichende und erfassende Kontaktpersonen pro Tag.

Steigt die Inzidenz nun auf 210 bei angenommener gleichzeitiger Kontaktreduzierung auf 4 pro Fall im Schnitt sind es dann 120 Kontaktpersonen pro Tag. Wir stellen also fest: Das Problem sind eher die vielen Fälle und noch viel mehr in der Skalierung viele Kontakte. Weniger Kontakte wäre für Gesundheitsämter einfacher, deswegen hatten wir letztes Jahr immer wieder Versuche der Eindämmung von Kontakten.

Aber jetzt ist ja die Hälfte der Bevölkerung geimpft

Das Impfdashboard weist einen Impfstatus der Bevölkerung von knapp 55 Prozent aus (Stand 11. August).
Ja, das ist gut. Aber: Impfungen von Kontaktpersonen ändern aktuell noch nichts an der Infektionssituation, die aufgeklärt werden muss. Bei einer Impfrate von 50% in der Bevölkerung und einer vorherrschenden Delta-Variante mit einem R0-Wert von 6 ist die effektive Reproduktionszahl immer noch viel zu hoch.
Jede Kontaktperson hat trotz ihres Impfstatus ja wieder ein gewisses Risiko zu erkranken und / oder andere zu infizieren. Was für Gesundheitsämter erst einmal in der Einschätzung der Infektionslage wenig verändert: Kontaktpersonen werden unabhängig von ihrem Impfstatus erfasst und als Kontaktpersonen entsprechend bewertet.
Das wird auch noch eine gewisse Zeit so bleiben müssen, wie lange hat schon erwähnter Dirk Paessler versucht zu berechnen.

Was sich für geimpfte Kontaktpersonen ändert

Geimpfte Kontaktpersonen werden also trotzdem von Gesundheitsämtern erfasst, nur werden sie nicht abgesondert. So bestimmt in der Corona SchAusnahmV §10.
Nur steht da auch schon wieder ein Problem im Gesetz: das alles gilt nur, wenn es nicht zu einer weiteren Virusvariante kommt, mit der das Problem wieder von vorne beginnen könnte.

Wir fassen also zusammen: Bei der Informationsverarbeitung von Corona-Fällen ändert sich für die Ermittlung von Infektionsszenarien wenig, es ändern sich eher die gewählten Maßnahmen.

Wo entstehen überhaupt Kontaktszenarien, bei denen Kontaktpersonen benannt werden sollten?

Das ist einfach gesagt: quasi überall.

Sei es

  • im Haushalt
  • auf der Arbeit
  • in Schule oder Universität
  • in Sport oder Freizeit
  • in Krankenhäusern, in ärztlichen Einrichtungen oder Pflegeheimen
  • in Gaststätten oder bei Kulturveranstaltungen
  • etc

Nun gibt es in der Diskussion um Apps wie Luca immer den Eindruck, dass diese Apps mit ihren Checkins das Problem magisch lösen würden.

Aber in der Realität stellen wir fest, dass es viele Menschen gibt, die gar nicht digital per Checkin an all diesen Gelegenheiten des öffentlichen Lebens teilnehmen.

Sei es vorwiegend

  • im Haushalt
  • auf der Arbeit
  • in Schule oder Universität
  • in Sport oder Freizeit
  • in Krankenhäusern, in ärztlichen Einrichtungen oder Pflegeheimen
  • etc

Es gibt bestimmt Einrichtungen aus diesen Bereichen, die Checkins anbieten, aber es ist nicht davon auszugehen, dass sich mit der Auswertung von Checkins hier sinnvoll eine Anwesenheit ableiten lässt. Außerdem ist der Prozess ein manueller Prozess, bei dem die jeweiligen Besucher:innen entweder aktiv mitarbeiten müssen oder die Veranstalter:innen aktiv nachfragen müssen.

Wir stellen also fest, dass Apps wie Luca den Kontaktnachverfolgungs-Prozess nicht vollständig abbilden und im Ganzen entlasten, sondern nur einen Teilbereich. Der Teilbereich der Gaststätten und Kulturveranstaltungen ist aber eben gerade der Teilbereich, der ja bewusst geöffnet werden soll. Gästelisten-Apps sind also in gewisser Weise der Versuch der Eindämmung eines stärken werdenden Infektionsrisikos, um in Theorie zusätzliche Risiken abfedern zu können.
Eine Digitalisierung der Nachverfolgung in diesem Teilbereich erscheint so grundsätzlich sinnvoll. Anzunehmen, Luca würde das Kontaktnachverfolgungsproblem als Ganzes signifikant reduzieren, wäre aber falsch.

Denn letztendlich kann es bei der Auswertung passieren, dass Datenquellen wie Luca eben auch nur eine Ansammlung von Personendaten ohne nachvollziehbare Struktur zum Ablesen eines möglichen Infektionszusammenhangs sind. Gästelisten von Diskotheken mit mehr als 800 Einträgen sind in Gesundheitsämtern eigentlich nicht wirklich sinnvoll abzutelefonieren. Denn währenddessen würden andere Infektionsketten vernachlässigt werden, weil Mitarbeitende mit dieser Tätigkeit blockiert sind.

Lockerungen und Aussichten auf die Zukunft

Es ist anzunehmen, dass mit zunehmenden Impfgrad der Bevölkerung auch viele Einschränkungen zurückgenommen werden – was grundsätzlich ja auch nachvollziehbar ist. Nur führt das bei der Nachverfolgung von Fällen immer wieder zur Nachverfolgung von extrem vielen Kontaktpersonen, sei es wegen Diskothekenbesuchen oder sonstigem.

Diese Ereignisse nicht nachzuverfolgen wäre schwierig, da es immer noch genügend Risiko auch für Geimpfte ab einer gewissen Menge von Personen gibt, da Impfungen ja auch nicht zu 100 Prozent effektiv sind.

Das wiederum führt aber auch aktuell gerne mal zu sehr umfangreichen Kontaktlisten zum Abarbeiten – mangelhafte Strukturierung und Bequemlichkeit seitens von Locations tut dazu ihr Übriges. Unstrukturierte Kontaktlisten mit mehr als 100 Einträgen pro einzelnem Fall sind da oftmals keine Seltenheit.

Die sehr ernüchternde Realität in der Nachverfolgung ist also, dass Gästelisten grundsätzlich zwar helfen können, sofern denn allerhand Parameter für eine richtige Anwendung gegeben sind, die auch eine klare Eindämmung eines präzise ermittelbaren Infektionsrisikos zulassen. Aber auch hier ergibt sich dann die bereits beschriebene Problematik, dass Gesundheitsämter nur wenige Personen auf einmal direkt erreichen können.

Aber es gibt doch Warnungen von Apps?

»Ein oder mehrere Gesundheitsämter haben im Rahmen einer Datenanfrage deine Kontaktdaten erhalten.
Im Rahmen einer Kontaktnachverfolgung wurden deine Kontaktdaten von einem oder mehreren Gesundheitsämtern entschlüsselt. Diese werten gerade aus, ob ein Risiko besteht und werden sich möglicherweise bei dir melden. Bitte handle verantwortungsvoll.«
(Luca App, Android, aktuelle Version 1.11.1)

So lautet die unspezifische Warnung von Luca, wenn Daten abgefragt wurden. Daraus lässt sich wenig ableiten, wie hier das Risiko für eine Person aussieht. Das Prinzip Luca vertraut im Wesentlichen auf eine Aktion des Gesundheitsamts im Nachgang. Pikantes Detail: Luca löst Warnungen erst in dem Moment aus, wenn Daten seitens einer Location vollständig freigegeben wurden, aber frühestens bei Anfrage des Gesundheitsamt über Luca – nicht schon beim Teilen des Testergebnisses wie in der Corona-Warn-App.

Warnungen der Corona-Warn-App sind da schon spezifischer, infizierte Personen bekommen eine klare Isolationsanweisung und auch die Risikowarnung erhält verhaltensbezogene Empfehlungen.

Bei einem Großereignis hat das Prinzip Luca also per se einen Geschwindigkeitsnachteil, da erst die Verarbeitung durch das Gesundheitsamt passiert sein muss – zusätzlich zu den anderen Quellen von Kontaktpersonen wie oben beschrieben. Und diese Problematik besteht potenziell bei jedem einzelnen Fall.

Aber das ist doch jetzt schon besser als vorher, oder?

Ja und nein. Gästelisten liegen digital vor und zumindest entsprechend strukturiert.
Aber: eine automatische, frühzeitige Warnung über eine digitale App in Form der CWA ist tatsächlich effizienter, um Infektionsketten zu brechen.
Er kann aber in ganz bestimmten, seltenen Gelegenheiten sinnvoll sein, Gästelisten anzufordern, um Menschen zu erreichen, die sonst nicht erreicht worden wären. Es müssen im Falle Luca aber gleich vier Grundbedingungen erfüllt sein:

  • die Indexperson muss ihre Anwesenheit bei einer Veranstaltung zugestehen
  • die Kontaktperson muss eingecheckt haben
  • die Location muss die Daten zeitnah freigeben
  • das Gesundheitsamt muss schnell genug die Kontaktpersonen manuell informieren können

Als Archillesferse entpuppt sich bei Luca in letzter Zeit immer wieder die Freigabe der Daten durch die Location.

Notwendige Schritte bis Warnung Luca-Prinzip Corona-Warn-App
Checkin durch Person ja teilweise, da Fallback auf ENF ohne Checkin
Freigabe von Testergebnis oder Daten ja ja
Freigabe der Daten durch Location ja nein
Kontaktaufnahme durch Gesundheitsamt ja nein

Der Luca-Prozess ist also nicht per se komplett falsch, er ist aber ein Beispiel eines einfach digitalisierten Analogprozesses. Die reine Digitalisierung des Übertragungswegs alleine bringt keine alleinige Verbesserung des Prozesses – speziell dann nicht, wenn die Umsetzung an sich immer wieder Mängel aufweist. Konzeptionelle Probleme beim eigentlichen Mehrwert Verschlüsselung machens dann auch nicht besser.

Geht das mit den Gästelisten und den Checkins und ähnlichen Datenstrukturen nicht irgendwie besser?

Ja. Checkins sind eher nur für bestimmte Szenarien sinnvoll, da für viele andere Kontaktszenarien eigentlich schon ganz gute Datenstrukturen zur Nachverfolgung vorliegen.

Ticketing-Anbieter haben Sitzpläne oder Platznummern, anhand derer ein Infektionsszenario nachgestellt werden kann.
In Schulen oder Hochschulen gibt es Klassen- oder Anwesenheitslisten, in Arbeitsstätten gibt es Schichtpläne.
Es gibt also genügend Szenarien, in denen bereits entsprechend gut strukturierte Datenstrukturen vorliegen, auch ganz ohne Checkins.
Checkins sind gut für spontane Gelegenheiten, an denen sich mehrere Menschen treffen – und sollten auch dort sinnvollerweise genutzt werden. Bei vielen anderen Gelegenheiten ist das weniger sinnvoll. Zumal ein Checkin oder Checkout ja auch immer gern vergessen wird.

Kontaktszenario Herkunft Parameter, an denen sich Kontakt ablesen lässt
Haushalt, privates Umfeld Indexperson Eigenauskunft Indexperson, Kontaktinformationen
Arbeitsstätte Arbeitgeber Überlappungen in Schichtplänen oder anderer Arbeitspläne
Schule, Hochschule Schulträger Überlappungen in Klassenlisten oder Anwesenheitslisten
Veranstaltung mit Ticket Ticketinganbieter Überlappungen mittels Ticketnummer / Veranstaltungsplänen
spontane Veranstaltung Checkin Überlappungen von Checkin-Zeiträumen
Gaststätten o.ä. Checkin Überlappungen von Checkin-Zeiträumen

Aber warum denn dann nicht die CWA?

Die Corona-Warn-App hat aus vielen bereits beschriebenen Gründen in der pandemischen Begleitung nahezu alle Vorteile für sich:

  • die Warnung geschieht schneller
  • die Warnung erreicht alle Kontaktpersonen Multicast gleichzeitig
  • die Nutzung ist anonym möglich
  • Warnungen erreichen auch Personen, die nach einer infektiösen Person eingecheckt waren (bis zu 30 Minuten)
  • auch ohne Checkin werden Menschen in der näheren Umgebung automatisch durch das Exposure Notification Framework gewarnt

Der Prozess der Warnung durch die CWA kann zwar auch daran scheitern, dass Menschen ihren positiven Test nicht teilen, aber das sind insgesamt weniger Hürden als in einem Prozess wie Luca.

Softwarequalität

Von der generellen Softwarequalität will ich zugunsten der Corona-Warn-App lieber gar nicht reden, ich halte normalerweise ziemlich lange Talks zu Problemen bei Luca. Nun gibt es aber doch einen Punkt, bei dem Gästelisten doch wieder nicht so ganz unnötig sind: bei der Anbindung von Menschen, die die Corona-Warn-App eben nicht haben.

Analog-Digital-Lücken

Die ganzen sinnigen digitalen Begleiter in dieser Pandemie haben alle immer ein Problem bei der Anbindung von analogen Teilnehmenden.
Luca versucht diese Funktion mit Schlüsselanhängern anzubieten oder mit einem Kontaktformular. Die Umsetzung der Schlüsselanhänger bezeichnet Patrick Hennig, CEO von Nexenio inzwischen selbst als etwas, was nicht richtig gemacht wurde.
Die Partizipationsmöglichkeiten für Menschen ohne Smartphone sind hier also auch nicht wirklich gelungen.

CrowdNotifier, nur anders

Bei der Entwicklung der Event-Funktion der Corona-Warn-App in Version 2 wiederum wurde in der Eventregistrierung die Möglichkeit vom CrowdNotifier-Protokoll bisher nicht umgesetzt, von Gesundheitsamt aus eine Warnung an ein Event zu senden.

Schaubild vom Crowd Notifier Workflow mit Möglichkeit, Warnungen aus dem Gesundheitsamt auszulösen
Das ist insofern für Szenarien notwendig, wenn z.B. Teilnehmende, die nicht digital eingecheckt sind, positiv testen und dann keine automatische Warnung über das System versenden können. Das muss in dem Szenario ersatzweise ein Gesundheitsamt machen. Aktuell gibt es diese Funktion der CWA nicht, ist aber in Diskussion. Rein von der Logik wäre dann bei Veranstaltungen ein analoger Checkin per Papier notwendig, aufgrund dessen dann im Nachhinein im Gesundheitsamt eine Warnung digital ausgelöst wird (oder umgekehrt).

Die generelle Abarbeitung analoger Teilnehmender am Prozess bliebe dann zwar weiter beim Gesundheitsamt, aber eine Menge von digital Partizipierenden könnte durch eine konsequente Integration der CWA bereits vorher gewarnt und eigenverantwortlich isoliert werden. Auch ist inzwischen die Testinfrastruktur so gut mit Schnelltests und der Verfügbarkeit von PCR-Tests, dass hier auch sauber weitere Infektionen in Folge erkannt werden können.

Digitale Bestandsanalyse

In der ganzen Komplexität der Kontaktnachverfolgung stellen wir nun also fest, dass Apps wie Luca nur einen ganz speziellen Anwendungsfall in der Kontaktnachverfolgungskette verbessern.

Mit der Corona-Warn-App existiert eigentlich eine stark unterschätzte digitale Möglichkeit zur schnellen Information von Personen in möglichen Infektionsszenarien – nur wurde diese lange schlecht vermarktet und eingebunden. Der Versuch der Marktdominanz von Seiten Luca hat auch eine sinnige Anwendung der CWA in vielen Bundesländern eher gehemmt; Sprecher von Ländern wie Baden-Württemberg bezeichnen Luca zwar als «scharfes Schwert», verkennen aber den beschränkten Anwendungsfall und die prinzipbedingt beschränkte Möglichkeit, Infektionsketten wirklich nachhaltig beeinflussen zu können. Es fehlt der ganzheitliche Blick für die Probleme in der Kontaktnachverfolgung.

Es braucht über Apps wie Luca hinausgehend:

  1. eine konsequentere Nutzung der CWA als entlastendes Warninstrument zum Brechen von Infektionsketten
  2. bessere digitale Partizipationsmöglichkeiten für Bürger:innen im Nachverfolgungsprozess
  3. spezifische digitale Anbindungen für spezielle Kontexte, in denen Checkins allein nicht zielführend sind
  4. sinnvolle Analog-Digital-Brücken in der Warnkette

Viel Aufwand und Geld ist in Luca geflossen in den letzten Monaten, wenig davon wird sich auszahlen. Symptomatisch für die Art von Digitalisierung, die in Deutschland oftmals betrieben wird. Alte Prozesse werden in Teilbereichen digitalisiert, aber nicht konsequent neu digital gedacht.

Ein Ausblick

«Was machst du eigentlich gerade beruflich, Bianca?»
Kontaktnachverfolgung weiter digital verbessern zu versuchen.
Aktuell bin ich verantwortlich für den Verfahrensbetrieb von IRIS connect in vier Bundesländern.
IRIS connect versucht auch Gästelisten anzubinden, aber aktuell beschäftigen wir uns auch mit den oben genannten Problemen der Indexfallnachverfolgung und Großveranstaltungen. Möglichst ganzheitlich, Open Source und im Dienste für Gesundheitsämter. Aber dazu mal wann anders.