Oder die komplizierte Frage: Was muss eigentlich getan werden, damit aus digitalen Tracinginformationen Infektionen oder zumindest Hinweise darauf erkennbar werden?
Es folgt: der Versuch zu erklären, warum Daten aus Contact Tracing Apps nicht automatisch diese Pandemie beenden werden. Eine Trägödie in drei Akten, dies ist ihr erster Teil: Eine Hoffnung in Daten.
Seit meinem letzten Artikel zum Thema Schnittstellen mit Corona-Relevanz sind zwar erst ein paar Wochen vergangen, aber die Thematik ist durchaus in Bewegung.
Zwischenzeitlich hat mich mehr positives Feedback erreicht als ich dachte. Was aber auch klar wurde, war dass es in dem Bereich Contact Tracing und Daten und Schnittstellen viele Vermutungen und Hoffnungen gibt - aber auch oftmals wenig differenzierte Abwägungen, in wie weit uns diese Apps oder Daten denn eigentlich weiterhelfen können. Darauf wird es auch in diesem Artikel keine einfache Antwort geben. Wahrscheinlich wird dieser Artikel sogar noch mehr Fragen aufwerfen, als er beantwortet.
Aber das ist auch gar nicht mein Ziel, diese kaum einfach beantwortbare Frage zu beantworten, sondern eher einen Einblick zu geben, wie wir mit solchen Daten umgehen müssten, so dass sie eine gewisse Nützlichkeit erzeugen.
Mein Background zu der Thematik
Wie im letzten Artikel zu der Thematik erwähnt arbeite ich seit ein paar Monaten mit einem Gesundheitsamt zusammen an der Thematik des Kontaktpersonenmangement und der Kontaktnachverfolgung – laut Zeit zähle ich als Insider in dem Thema.
Die Fragen und Herangehensweisen, die ich in diesem Artikel erwähne, entstammen aus der Praxis und nicht aus rein theoretischen Überlegungen. Allerdings muss ich auch ganz klar abgrenzen, dass ich primär die technische Betreuung bei der Thematik übernehme und die Überlegungen hier nicht den Anspruch auf medizinische oder epidemiologische Exaktheit haben. Es geht eher um die generelle Herangehensweise, vollständig präzise wissenschaftlich gestützte Parameter gibt es daher hier aber nicht. Die Thematik ist alles andere als trivial und beschäftigt Expert:innen ständig und verändert sich mit neuen Erkenntnissen immer weiter. Es wird hier keine Lösung geben, dafür aber das Aufzeigen der vielen Probleme und Herausforderungen.
Contact Tracing
Im Contact Tracing im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 oder Infektionskrankheiten im Allgemeinen gibt es eigentlich zwei primäre Fragen:
- Wie geschah die Infektion?
- Wie wurde die Infektion weitergegeben?
Je nachdem in welche Richtung gesucht wird, handelt es sich dann um Backward oder Forward Tracing.
Rein hypothetisch angenommen, es ließen sich diese beiden Fragen zu jeder einzelnen Infektion exakt bei jedem COVID-19-Fall beantworten, wäre die Eindämmung dieser Pandemie natürlich wesentlich einfacher.
Wichtige zeitliche Abschnitte im Contact Tracing
Wir betrachten zu Beginn den typischen Verlauf einer COVID Erkrankung, übernommen vom Science Media Center. Parameter können sich durch Virusmutationen verändern, der Ablauf aber kaum.
Nun ist es leider so, dass die wenigsten Menschen genau bestimmen können, dass sie sich zum Beispiel am 30. Juli 2020 um 09:13 durch eine indirekte Aerosolübertragung an Breitengrad 54.020809, Längengrad 9.387842 infiziert haben. Und dass sie dann in der Folge nach einer Latenzzeit von 3 Tagen noch Kontakt in der Zeitspanne der Infektiosität von 3 Tagen mit weiteren 13 Menschen hatten, bevor sie dann mit Symptomen auffielen am 4. August und am 5. August getestet und isoliert wurden.
In diesem sehr klar definierten Fall würden die 13 Kontaktpersonen überwacht und / oder isoliert werden und die Lage wäre unter Kontrolle.
Oftmals ist aber schlicht nicht bekannt, wie genau die Infektion stattgefunden hat und wie viele mögliche Ansteckungen in Folge stattgefunden haben. Nicht alle COVID-Fälle werden überhaupt symptomatisch, haben also keinerlei oder kaum wahrnehmbare Symptome. Sie sind allerdings für andere ansteckend, werden aber möglicherweise nie entdeckt. Genau solche Fälle machen die Beherrschung von Corona aber so schwierig.
Contact Tracing ist also oftmals ein Stochern im Halbnebel mit vielen Unbekannten.
Übertragungswege
Angenommen, das genaue Woher und Wohin der Infektion ist unbekannt, dann müssen wir uns also stattdessen überlegen, wie genau eine Virusinfektion stattgefunden haben könnte.
Bei SARS-CoV-2 sind primär zwei Übertragungswege relevant (oder auch mehr, aber wir beginnen mal mit diesen beiden) – einerseits die Tröpfcheninfektion und andererseits die Kontaktübertragung. Klingt erst mal einfach. Sollte sich ja auch irgendwie mit Daten herausfinden lassen, wenn wir wissen, dass eine Person infiziert ist und dann mögliche Kontakte mit solchen Übertragungswegen hatte.
Tröpfcheninfektion / respiratorische Aufnahme
Eine direkte Tröpfcheninfektion ist beispielsweise so etwas wie «Person hustet anderer Person ins Gesicht». Das klingt jetzt erst mal einfach zu erkennen. Für dieses Szenario wäre es ja ausreichend, wenn wir davon ausgehen, dass wenn der Abstand der beiden Personen gering genug zu einer gewissen Zeit war, dass es hier auch potenziell eine Tröpfcheninfektion gegeben haben könnte. Dagegen haben wir ja irgendwann im letzten Jahr festgestellt, dass mindestens 1,5 Meter Abstand sinnvoll sind. In diesem Szenario ist der exakte Ort, wo ein enger Kontakt stattfand, eigentlich egal. Sofern die Bedingung der Nähe gegeben ist, wäre der genaue Ort davon bei einer direkten Tröpfcheninfektion zweitrangig. Klingt erst einmal grundsätzlich einfach, aber das Problem steckt im Detail. In einem sehr kleinen Detail, um genau zu sein. Denn wir sprechen jetzt von einen Nanometer-Bereich. Weil das SARS-CoV-2 Virion (das einzelne Partikel) so klein ist, haben wir im Bereich der Tröpfchen-Infektionen nun leider noch einen zweiten, anderen Übertragungsweg – nennen wir ihn die Aerosolinfektion. Aerosole stellen wir uns als Virenwolken vor, die durch die Luft wabern, aber irgendwann zu Boden fallen – und da wird es leider auch schon wieder schwieriger, diese zu erfassen. Wie lange sich so infektiöse Aerosole in der Luft halten können, hängt von diversen Faktoren ab: Unter anderem der Luftzirkulation an einem Ort, Wetterdaten und sonstigen Parametern, welche die Luftströmung beeinflussen. In einer Auswertung mittels Daten wird es hier also sehr schwammig, direkt abzuleiten, ob eine Aerosolinfektion stattgefunden haben könnte. Als sicher kann gelten, dass Ort und Zeit ungefähr übereinstimmen müssen, aber die notwendige Überschneidung dieser Werte kann stark variieren. Aerosole können sich Minuten bis Stunden in der Luft halten und auch durchaus bewegen.Schmierinfektion / Kontaktübertragung
Angenommen, eine infektiöse Person niest jetzt nicht direkt einer anderen Person ins Gesicht, sondern in die eigenen Hände oder so. Dann gibt es an den Händen eine gewissen Virenlast. War also nicht ganz falsch, dass wir im letzten Jahr neue kreative Begrüßungsrituale ohne Handschlag entwickelt haben. Eine andere Person würde ansonsten eine Virenlast als Schmierinfektion aufnehmen und eventuell über die Schleimhäute oder Bindehäute aufnehmen. Mit besserer Handhygiene sinkt also grundsätzlich auch das Risiko von Schmierinfektionen, nur sind diese nie ganz auszuschließen. Würden wir den Übertragungsweg einer Schmierinfektion aber auch noch an Daten ablesen wollen, wird es leider auch wieder kompliziert: Denn bis auf eine Gemeinsamkeit des Ortes von zwei Personen wären andere Parameter wieder sehr variabel; wie etwa das Hygieneverhalten der jeweiligen Person, die grundsätzlichen Hygienemaßnahmen vor Ort etc. Dann wäre aber noch das überaus komplexe weitere Szenario, angenommen, es gibt eine per Hand aufgebrachte Virenlast auf einem Gegenstand, der dann von einem Ort zum anderen gebracht wird. In diesem Fall wäre nicht einmal ein Ortszusammenhang erkennbar. Das Risiko dafür ist aber generell eher gering – grundsätzliche Handhygiene angenommen –, denn der Hauptteil der COVID-Infektionen geht über die Atmung.Für eine etwas wissenschaftlichere Bewertung dieser verschiedenen Szenarien sei auf die Liste beim RKI verwiesen.
Die Sache mit der Viruslast
Bloß weil es zu einem dieser Übertragungswege kam, heißt das aber noch lange nicht, dass daraus eine Infektion resultiert. Denn zur Infektion der Person, die diesem Übertragungsweg ausgesetzt ist, bedarf es einer gewissen Virenlast.
Ob diese Virenlast in der jeweiligen Situation für eine Infektion ausreicht, hängt an verschiedenen Parametern:
- Dauer des Kontakts
- Intensität des Kontakts
- Eigene Schutzmaßnahmen
- Fremde Schutzmaßnahmen
- Abstand
- Gegebenheiten des Ortes
und inzwischen auch ganz entscheidend an der jeweiligen Virusvariante.
Denn je infektiöser eine Virusvariante ist, desto weniger Virenlast reicht zur Infektion. In den offiziellen RKI-Definitionen von Kontaktpersonen der Kategorie 1 (höheres Infektionsrisiko) wird hier immer von mindestens 15 Minuten Kontakt gesprochen. Allerdings kann sich das aufgrund Virusvarianten schon auch mal ändern. Gehen wir also eher von wenigen Minuten aus, die kritisch sein können. Wahrscheinlich ist das je nach Virusvariante sogar noch schlimmer, aber es geht erst mal ums Modell.
Exkurs: Mitigationen gegen Tröpfcheninfektionen und Schmierinfektionen
Ja, Abstand halten, Maske tragen und Hände waschen ist jetzt nicht so hipp wie eine App – aber es hilft zumindest das Risiko zu vermindern. Die Wirkung einer App ist ohnehin leider nur rückwirkend zu sehen. Also wascht euch die Griffel, geht etwas auf Distanz und bedeckt euren Mund-Nasen-Bereich anständig. Ja auch wenn gerade niemand zuguckt, wenn ihr unter Leuten seid.Versuch einer Datenforensik einzelner möglicher Infektionswege
Nach dem ganzen epidemiologischen Vorgeplänkel geht es nun an die Daten.
Wir fassen zusammen, wie wir auf Datenebene mögliche Infektionen ansatzweise erkennen könnten. Vorausgesetzt, wir können das entsprechend als Übertragungsweg eingrenzen. Achtung: das ist eher eine nur stümperhafte Vereinfachung und soll nur Verständnis für die Thematik schaffen.
Direkte Tröpfcheninfektion
Kategorie | Wert |
---|---|
Präzise Datenbedingung | Distanz kleiner Grenzwert (z.B. 2 Meter) für eine gewisse Zeit (z.B. 5 Minuten) |
Ersatzweise Datenbedingung | Ort und Zeit für gewisse Zeit gleich (z.B. 5 Minuten) |
Anforderungen an Präzision | Distanz und Zeit präzise |
Infektionsrisiko | sehr hoch |
Risikofaktoren | Masken, Virusmutationen, Infektiösität der Indexperson, Menge des Aerosolausstosses (Sprechen, Singen), Dauer der Begegnung, Abstand |
Mitigation | Maske, Abstand |
Die Erkennung dieser Kategorie funktioniert also am besten über eine Abstandsmessung, wie sie etwa die Corona Warn App (CWA) seit ihrer ersten öffentlichen Version im Jahr 2020 realisiert. Die technische Umsetzung dafür basiert auf dem Exposure Notfication Framework, welches Bluetooth LE zur Abstandsschätzung verwendet. Das funktioniert inzwischen relativ gut – im Rahmen der technischen Möglichkeiten. Denn aus einem geringen Abstand allein kann nicht abgeleitet werden, ob zwei Personen wirklich direkten Kontakt hatten oder ob sie vielleicht in unterschiedlichen Zimmern getrennt waren. Oder ob es Personen in der nächsten Nähe waren, die aber räumlich sicher getrennt waren. Aber diese Erkennung ist präziser als etwa die Erkennung über GPS, durch die ja nur der Ort berücksichtigt werden kann, aber z.B. nicht mehrere Stockwerke eines Gebäudes. Technisch also immer noch eine Notlösung, aber eine inzwischen durchaus passable.
Dazu wie die Corona Warn App diese Risikoberechnungen vornimmt, sei auf die entsprechenden Stellen auf github verwiesen.
indirekte Aerosolinfektion
Kategorie | Wert |
---|---|
Präzise Datenbedingung | Ort gleich für einen gewissen Zeitraum, um Infektion auszulösen (z.B. 30 Minuten) |
Anforderungen an Präzision | Ort etwa gleich, Zeit kann sich überschneiden, hat aber «Nachlauf» |
Infektionsrisiko | hoch |
Risikofaktoren | Masken, Virusmutationen, Infektiösität der Indexperson, Menge des Aerosolausstosses (Sprechen, Singen), Belüftung des Ortes, Volumen des Ortes, Wetter, Mikroklima, Dauer des Aerosolkontakts |
Mitigation | Maske, Belüftung |
Potenzielle Aerosolinfektionen aus Daten abzuleiten ist schon weit schwieriger. Die Abstandsmessung in Kombination mit der Zeit kann ein ersatzartiger Indikator für diese Kategorie von Infektionen sein, so einfach ist es aber nicht.
Als gegeben gelten kann, dass mindestens eine infektiöse Person Aerosole an einen Ort eingebracht haben muss und die Personen, die sich zur gleichen Zeit an diesem Ort aufgehalten haben, ein Infektionsrisiko haben. Nur kann hier die Ansteckung auch noch nach dem Verlassen eines Ortes durch die infektiöse Person stattfinden. Eine genaue zeitliche Überschneidung des Aufenthalts mit der infektiösen Person ist also nicht zwangsläufig nötig. Wie groß diese zeitliche Spanne nach Verlassen des Ortes durch die infektiöse Person ist, in der eine indirekte Aerosolinfektion stattgefunden haben könnte, ist stark von den klimatischen Gegebenheiten des Ortes abhängig. Also benötigen wir hier noch mehr Informationen zum Ort, die über die reine Begegnung hinausgehen.
In der «Zeit online» gibt es gerade auch in Bezug auf B.1.1.7 eine schöne Visualisierung der Parameter, die das Risiko von Aerosolinfektionen beeinflussen.
Aerosolinfektionen beschreiben aber auch schon das Problem, welches die CWA in Version 1 hatte: die Risikoerkennung in der CWA ist nicht direkt ortsgebunden, sondern nur Abstands-basiert. Das ist für die Kategorie direkter Tröpfcheninfektionen im Nahfeld okay gewesen, nur wird diese großen Aerosolen nur unzureichend gerecht. Dass die CWA nun also in Version 2 auch auf QR-Codes setzt, ist eine sinnvolle Ergänzung. Reine Abstandsmessung allein wird Aerosolen nicht mehr gerecht.
Kontaktübertragung stationär
Kategorie | Wert |
---|---|
Präzise Datenbedingung | Kontakt zu gleichen Gegenstand, der eine Virenlast trägt |
Ersatzweise Datenbedingung | Ort gleich, um dort genügend Virenlast per Kontakt aufzunehmen, zeitlich geringer Abstand |
Anforderungen an Präzision | Kontakt zu gleichem Gegenstand |
Infektionsrisiko | gering |
Risikofaktoren | Handhygiene, Virusmutationen, Infektiösität der Indexperson, Material des Gegenstands |
Mitigation | Handhygiene |
Eine mögliche Schmierinfektion sollte sich dadurch erkennen lassen, dass es grundsätzlich eine örtliche Überschneidung gab, um dort zum gleichen Gegenstand Kontakt gehabt haben zu können, der genügend Virenlast trägt (z.B. Türgriffe). Wie eng der zeitliche Zusammenhang von infektiöser Person und Kontaktperson für eine mögliche Infektion sein muss, ist stark abhängig von Parametern wie etwa der Oberfläche (Metalle, Stoffe etc) auf der eine Virenlast möglicherweise übertragen wurde. Hier wäre also eine ähnliche – eher nach hinten offene – Abfrage wie bei Aerosolinfektionen notwendig, um anhand von Datenpunkten Indikationen zu möglichen Schmierinfektionen zu erhalten.
Ziemlich undankbar an der Situation ist, dass Corona-Viren auf bestimmten Stoffen sehr lange halten können, teilweise Tage z.B. auf Stahloberflächen. Ob diese Virenlast dann auch zu einer Infektion reicht, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Aber es ist zumindest klar, dass bei mangelnder Reinigung von Orten dieses Problem sicher nicht besser wird.
Kontaktübertragung mobil
Kategorie | Wert |
---|---|
Präzise Datenbedingung | Kontakt zu gleichen Gegenstand, der eine Virenlast trägt |
Ersatzweise Datenbedingung | zeitlich geringer Abstand |
Anforderungen an Präzision | Kontakt zu gleichem Gegenstand |
Infektionsrisiko | gering |
Risikofaktoren | Handhygiene, Virusmutationen, Infektiösität der Indexperson, Material des Gegenstands |
Mitigation | Handhygiene |
Kommen wir zu dem Szenario, dass sich durch Daten quasi kaum mehr sinnvoll erfassen lässt. Denn angenommen, ein Gegenstand (z.B. ein leeres Glas auf einem Konzert), der durch eine infektiöse Person mit einer gewissen Virenlast belegt wird, wird in der Phase einer möglichen Infektiösität bewegt oder weitergegeben, dann … ein Szenario, das möglich ist, aber eher ganz ganz schlecht mit Daten zu belegen ist. Weil dieses Szenario aber eher sekundär zu sehen und datenmäßig eigentlich nur schwer abbildbar und damit auch schwer detektierbar ist, entfällt es im Folgenden – die Detektion ist eh quasi nicht möglich.
Magische Apps und ihre Grenzen
Nachdem wir jetzt mühsam versucht haben, in Daten Zusammenhänge für Infektionswege zu finden, stellen wir fest, dass es durchaus sehr viele Datenpunkte braucht, um auch nur einen möglichen Infektionsweg zu einer möglichen Infektions-Gelegenheit zu beurteilen.
Nur liegen uns aus Apps ja nicht unbedingt alle diese Daten so ganz automagisch vor.
Das Problem bei einer reinen datenbasierten Bewertung jedes einzelnen dieser Infektionsszenarien entsteht schon allein an der Tatsache, dass der Grad der Infektiösität der Person (der sich etwa hilfsweise über einen PCR-Test und den ct-Wert ableiten ließe) und die vorliegende Virusmutation das Risiko jedes einzelnen Szenarios gleichermaßen dynamisch verändert.
Zur Virusmutation muss auch gesagt werden, dass eine klare Aussage, welche Virusmutation genau vorliegt, immer erst Tage nach der ersten Analyse eines Falles vorliegen kann. Bei einer datenmäßig vorsichtigen Analyse müsste man also von der schlimmsten Virusmutation ausgegangen und hier Szenarien durchgerechnet werden bzw. diese mit neuen Parametern evtl. immer wieder neu berechnen werden.
Damit diese Apps ein Infektionsrisiko halbwegs valide beurteilen könnten, müssten wir Ihnen auch sehr spezifische Gesundheitsdaten anvertrauen. Das resultiert sauber umgesetzt in einem sehr hohen Aufwand an die Datensicherheit. Wie etwa die Corona Warn App versucht, Rückschlüsse auf den Teststatus einer Person zu verhindern? Dazu sei auf das Video von der rC3 verwiesen – das Video geht auch etwas genauer auf die Risikoberechnung ein.
Und selbst wenn diese magischen Apps alle diese Daten immer in Echtzeit parat hätten, um hier mit magischen Algorithmen automatische Risiken abzuleiten, wäre das dann nur das Ergebnis für genau eine mögliche Risikobegegnung einer Person zu einer infektiösen Person oder umgekehrt. Ein Ansatz, der in der Form vielleicht für ein paar Indexfälle leistbar ist. Aber sicher nicht in einer weltweiten Pandemie mit täglich tausenden neuen Fällen, die wiederum mehrfache solcher zu bewertender Risikobegegnungen haben, die berechnet werden müssten. Ach ja, Gesundheitsämter haben gerade auch keine abertausenden Data Science Expert:innen zur Hand, geschweige denn genügend Zeit und Infrastruktur, «um das mal so nebenher einfach durchzurechnen».
Die Pandemie allein mit Daten von möglichen Risikobegegnungen zu Ende zu berechnen wird also nicht funktionieren.
Aber: so ganz aussichtslos ist die Datenlage nicht. Wenn wir uns nicht allein darauf verlassen, dass uns magische Apps retten werden.
Der Halbnebel
Zu Beginn sprach ich von Halbnebel – denn viele Infektionshergänge sind eigentlich durchaus bekannt. Auch nach einem Jahr Pandemie gibt es immer noch die gleichen Übertragungswege, die ich beschrieben habe, nur sind die Gelegenheiten, bei denen diese auftreten können, eigentlich oftmals eher sehr klar umrissen.
Menschen infizieren sich aktuell vorwiegend wahlweise
- im Haushalt oder häuslichen Umfeld
- In Kita oder Schule
- am Arbeitsplatz
Eine Auflistung der Ausbrüche in Baden-Württemberg von Anfang diesen Monats etwa zeigt hier klar, dass sehr viele Ausbrüche – das sind Infektionsgeschehen mit mehr als einem Fall – an Orten stattfinden, bei denen die Datenlage eigentlich jetzt schon sehr gut ist. Zählen wir den Anteil der aktiven Ausbrüche an den oben genannten Stellen zusammen, kommen wir auf mehr als 75% der aktiven Ausbrüche.
Daten zu Haushalten sind vorhanden, Daten zu Kitas und Schulen sind vorhanden, Daten zu Arbeitsplätzen sind vorhanden. Denn bei allen Ausbrüchen sind die dort anwesenden und potenziell gefährdeten Personen ja irgendwie sehr klar bekannt.
In der Praxis ist es aber meist nicht so einfach, einfach mal eine ganze Schulklasse, Kita oder einen Betrieb vollständig in Quarantäne zu stecken oder Schulen und Betriebe zu schließen, aber das ist oftmals ein politisches Thema.
Diffuser Infektionsnebel und App-Support
Angenommen, wir wollen in Zukunft wieder alle Restaurants und Läden öffnen und Kultur ermöglichen. Dann wird das auch in einem diffuseren Infektionsgeschehen resultieren - neben dem bereits bekannten Hauptteil in Arbeit und so weiter. Es führt zu mehr Kontakten abseits bekannter Infektionswege. Damit steigt auch die Notwendigkeit, hier mehr datenbasierte Anhaltspunkte für eine Nachverfolgung zu schaffen.
Das ist der Mehrwert, den Apps wie «Luca App» versprechen. Sie sind die Wette auf eine offenere Zukunft trotz Pandemie. Halten werden sie diese Versprechen aber nur zum Teil. Denn wie hoffentlich anhand der Beschreibung der Infektionswege klar wurde, sind die Daten, die diese Apps zur reinen Erkennung von möglichen Infektionen liefern, für sich allein unzureichend. Sie müssen im Kontext von anderen Faktoren, die nicht in diesen Apps vorliegen, bewertet werden.
Grobe Beurteilung der Eignung der Corona Warn App und Luca zu einer möglichen Infektionserkennung
Gehen wir mal die Infektionswege durch und gehen wir mal die Corona Warn App in Version 1 und 2 (mit QR-Codes) sowie die Luca App (und vergleichbare) im aktuellen Stand durch. Und wir überlegen mal, welche Daten diese drei App-Funktionsweisen erfassen können, wenn sie voll genutzt werden. So ergibt sich für mögliche Infektionswege in etwa die folgende Eignung, um Anhaltspunkte für Infektionswege zu liefern.
Disclaimer: Das bezieht sich nur auf die generelle Möglichkeit, mit den Daten in den jeweiligen Apps mögliche Infektionen abzuleiten, die weitere Nutzbarkeit der Daten oder Rückkanäle sind ein anderes Thema. Die Auflistung ist stark simplifiziert.
Kategorie | Luca-Prinzip | CWA 1 | CWA 2 |
---|---|---|---|
Direkte Tröpfcheninfektion | Basis (Ort, Zeit) | Erweitert (Abstand) | Erweitert (Abstand) |
indirekte Aerosolinfektion | Basis (Ort, Zeit) | keine | Basis (Ort, Zeit) |
Kontaktübertragung stationär | Basis (Ort, Zeit) | keine | Basis (Ort, Zeit) |
Kontaktübertragung mobil | keine | keine | keine |
Wir stellen fest: Grundsätzlich liefern Luca (o.ä.) Parameter wie Ort und Zeit, die einen Zusammenhang zu Infektionswegen liefern können, eine aufgebohrte Corona Warn App mit Check-In-Funktion kann aber in Summe eine präzisere Detektion liefern. Klar, sie hat ja auch noch eine Abstandsschätzung, die Luca (o.ä.) nicht hat. Der Annahme geht aber immer voraus, dass alle Beteiligten die Apps benutzen, alle sauber einchecken etc.
Unschärfen
Check-In Zeiten
Bei beiden Systemen ergibt sich eine technische Unschärfe beim Check-In und beim Check-Out. Der Check-In wird in der CWA von der Person ausgeführt, bei Luca ist das sowohl durch die Location aber auch durch die Person möglich. Üblicherweise vergessen Menschen aber sich einzuchecken, checken zu spät ein, checken gar nicht ein etc.
In einer typischen Gaststätten-Situation, in der man vom Personal eingecheckt wird, gibt es hier ja eine Latenz im normalen Gaststättenbetrieb etc. Kurzum: Die Anwesenheits-Zeiten als exakt zu bewerten und hier exakte zeitliche Trennschärfe anzulegen, ist wenig sinnvoll. In Hinblick auf die möglichen Infektionswege ist eine zeitliche Überpräzision aber ohnehin nicht sinnvoll.
Abstandserkennung Corona Warn App
Bluetooth zur Abstandsmessung von Mobiltelefonen zu nutzen ist nicht unbedingt der Use Case, für den Bluetooth gebaut wurde. Es ist mehr oder weniger ein Hack, der auf Messungen der Signalstärke und Ableitungen davon basiert. Die Abstandsmessung der Corona Warn App ist also auch nie wirklich exakt und ist oftmals störanfällig.
Messungen der Corona Warn App-Macher:innen beziffern die Genauigkeit auf etwa 80%, was durchaus als gut zu bewerten ist.
Datenvalidität von Personenbezug oder Kontaktinformationen
Für die Erkennung von Infektionswegen ist erst mal egal, ob möglicherweise notwendige Personendaten oder Kontaktdaten von Personen stimmen. Im Bereich der Erkennung von Infektionsrisiken geht es auch gar nicht um Personendaten. Die Notwendigkeit bestimmter Personendaten in dieser ganzen Kette ist ein anderes Thema für einen späteren Teil.
Hilft uns das mit diesen Apps dann eigentlich?
Ja. Auch wenn die Datenpunkte der Apps zwar nicht ausreichen, um allein mit ihren Daten einen Sachverhalt einer möglichen Infektion vollends zu klären, geben sie uns doch Hinweise auf Kontakte, die eine infektiöse Person gar nicht selbst wahrnehmen kann oder in einem Gespräch mit einem Gesundheitsamt zitieren könnte.
Beispielsweise Personen, die ihr nicht bekannt sind, etwa, die aber trotzdem ein Infektionsrisiko darstellen oder durch die infizierte Person haben. Corona Apps sind aber immer nur als zweite Absicherung von Infektionsketten zu sehen, nie als alleiniges Hilfsmittel zur Aufdeckung möglicher Infektionsketten.
Die Erklärung der Infektionswege zeigt hier hoffentlich klar: Es ist eine ganze Menge Daten, die allein zu nur einer einzigen möglichen Infektion und deren Aufklärung gehören können.
Aus ganz ganz vielen Daten jetzt zu hoffen, magisch von ganz alleine komplexe Zusammenhänge zu erkennen, ist äußerst optimistisch und zeugt von Verkennung der dahinterliegenden Problematiken.
Gesundheitsämter einfach mit – prinzipbedingt gar nicht mal ausreichend vollständigen – Datensätzen zu überhäufen, in der Hoffnung, dass sich daraus etwas Sinnvolles ablesen lässt, wird nicht funktionieren. Daten ohne Relevanz erzeugen Aufwand in Ihrer Bewertung, sie erzeugen Datenlücken, die vor einer abschließenden Beurteilung gefüllt werden müssen. Roh-Daten aus Apps müssen hier klug eingesetzt werden, um einen möglichen Mehrwert zu liefern.
Clustererkennung
Nachdem wir jetzt in die Details eines einzigen möglichen Infektionsweges gegangen sind, stellt sich die Frage, wie wir damit datenmäßig ansatzweise mehrere Infektionsereignisse an einem Ort zu einer ähnlichen Zeit auf einmal erkennen können - Cluster also.
Epidemiologisch ist ein Cluster quasi «mehr als Zufall». Ein Ereignis, bei dem etwas passiert, was kein Zufall mehr ist, beispielsweise also die Infektion von gleich mehreren Personen bei einem einzigen Infektionsereignis.
Aber das ist dann die Geschichte für den nächsten Teil. Es wird sehr viele Zufälle geben und wir werden versuchen, aus diesen vielen Zufällen das «mehr als Zufall» zu finden.
Stay safe bis dahin.