Die Corona Schnittstellenlage und andere Probleme

COVID, Digitalisierung, API, Contact Tracing

Bianca Kastl

Es ist ein inzwischen sich wiederholender Vorgang, dass zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hin und wieder ein neues digitales Heilmittel gehypt wird. War das letztes Jahr die Corona-Warn-App, ist es Ende Februar / Anfang März nun SORMAS.

Dabei wird mal wieder viel durcheinandergeworfen. Nun bin ich – mir jetzt eigentlich im Nachhinein eher unerklärlich, aber sei es drum – in dem Themengebiet digitale Kontakterfassung und -nachverfolgung inzwischen Expertin mit monatelanger Pandemieerfahrung. Notgedrungen, aber dazu vielleicht später.

In der Berichterstattung über SORMAS, – dem Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System des Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung – wird dabei sehr viel vermischt, was eigentlich gar nicht zusammengehört.

Anlass für mich, das mal etwas aufzudröseln.

Grundsätzlicher Ablauf bei einer Coronainfektion

Die Gründe für einen Coronatest sind unterschiedlich: Eine Person fühlt sich krank und lässt sich testen oder wird im Rahmen einer Reihentestung getestet oder war Kontaktperson zu einer infizierten Person etc.
Das ist aber für den Ablauf unerheblich. Irgendeine Stelle, meist eine hausärztliche Praxis, übermittelt eine Probe an ein Labor, die diese dann auf eine COVID-Infektion prüft.
Fällt dieser Test positiv aus, wird das jeweils zuständige Gesundheitsamt vom Labor informiert, was sich dann im Anschluss um das Contact Tracing kümmert und mit der infizierten Person Kontakt aufnimmt.

Welche Informationen sind bei einer Corona-Infektion überhaupt relevant?

Angenommen, eine Person wird auf COVID positiv getestet, hat die oberste Priorität das Unterbrechen der möglichen Infektionskette. Nur ist über diese Infektionskette nicht viel bekannt zu Beginn:
Das Gesundheitsamt weiß zu Beginn im Prinzip nur, dass eine Person positiv getestet wurde. Ausgehend von dieser Person müssen dann weitere Informationen zu möglichen Kontakten und Infektionswegen in Erfahrung gebracht werden.
Sobald diese Informationen bekannt sind, wird auch für Kontaktpersonen – die infizierte Person natürlich auch – eine Quarantäne ausgesprochen, um die Infektionsketten zu durchbrechen.

Prinzipiell ist das recht einfach in Datenbanksicht dargestellt: Es gibt einen Fall, der kann mehrere Kontaktpersonen haben. Nun ist es bei Infektionskrankheiten so, dass aus einer Kontaktperson sehr schnell auch ein Fall werden kann und so weiter. Irgendwann hast du aber aus einfachen Relationen von Fällen und Kontaktpersonen und deren Kontaktpersonen einen ganzen Infektionscluster in einer Datenbank abgebildet.
Natürlich hat jeder Fall dann noch weiterführende Informationen wie Kontaktinformationen, Angaben zum Beruf, ebenso auch jede Kontaktperson.
Ein Fall steht meist nicht nur für sich allein, sondern hat auch einen Labortest als Anhang, was wieder eine eigene Datentabelle wäre.
Ebenso gibt es vielleicht bestimmte Ereignisse, wie etwa Feiern oder sowas, die von epidemiologischer Bedeutung sind, weil irgendwo haben sich die Menschen ja wahrscheinlich auch angesteckt.

Wir fassen also zusammen:

Es braucht:

  • Falldaten
  • Daten von Kontaktpersonen
  • Daten von Labortests
  • evtl. Daten zu Ereignissen
    um so ein Contact Tracing digital abzubilden.

Was ist SORMAS?

SORMAS ist vereinfacht gesagt eben so eine Datenbank mit User-Interface. Eigentlich sind alle Tools, die ich im Folgenden erkläre, Datenbanken mit irgendeiner Art von User-Interface.
SORMAS hat an sich das Ziel, Kontaktinformationen zu mit COVID infizierten Personen zu sammeln und visualisieren.

SORMAS selbst lässt sich über ein Webinterface nutzen oder über eine Android-App für Tablets.

Das ist im Vergleich zu den anderen Tools tatsächlich fast schon ein Pluspunkt: ein Tool, das auch einfach im Browser läuft. Aus Webentwicklungssicht sind die Ansprüche in dem Themengebiet für mich aber auch inzwischen eher gering.

Ist SORMAS gleich SORMAS?

Nein, es gibt unterschiedliche Varianten. Ursprünglich gab es eine SORMAS-Version zum Selbsthosten, das ist aber nicht mehr so ganz gewünscht, denn Ziel ist es, dass alle Gesundheitsämter in Deutschland vernetzt sind; was grundsätzlich ja auch überaus sinnvoll ist.
Also bekommen alle Gesundheitsämter eine eigene SORMAS eXchange-Instanz in der Bundescloud quasi.
SORMAS X ist dann die Version, mit der auch andere Schnittstellen angebunden werden, denn diese Schnittstellen ermöglichen Zugriff auf die eigentlichen relevanten Daten zu Tests und Fällen.

Ist SORMAS allein also nicht ausreichend?

Nein, SORMAS hat an sich zwar die Möglichkeit, die Datensätze zu Labortests oder Fällen eigenständig zu verarbeiten, das sind aber nicht die Datensätze, die mit dem RKI ausgetauscht werden bzw. beim RKI verwaltet werden.

Labortests - DEMIS

DEMIS ist das Deutsche Elektronischen Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz und jetzt kommen wir endlich auch schon zu dem Faxwitzen. Angenommen, im Labor wird eine Probe positiv getestet, muss diese Info natürlich schnellstmöglich an das zuständige Gesundheitsamt.
Schnellstmöglich hieß bis letztes Jahr oft noch: Fax. Aber eigentlich gab es in Deutschland schon länger eine digitale Infrastruktur zur Übermittlung von Laborbefunden zu Infektionskrankheiten, nämlich DEMIS. Nur waren wahlweise die Gesundheitsämter oder die Labore nicht an DEMIS angebunden, also war das auch wieder nichts mit einem schnellen und direkten Informationsaustausch. Der Ursprung aller Faxwitze.
Seit Anfang des Jahres gehen nun aber alle Labormeldungen digital über DEMIS. Also haben wir zumindest schon mal den ersten Teil der Meldekette digital – falls es eine Anbindung an DEMIS in dem jeweiligen Tool gibt, dass das Gesundheitsamt nutzt.
Und da ist es so, dass die DEMIS-Schnittstelle in SORMAS X zwar als Pilotprojekt existiert, aber entweder noch nicht final freigegeben oder gerade erst am Beginn des Produktivbetriebs ist.
Wohlgemerkt jetzt, als eigentlich alles laut Plan mit SORMAS laufen sollte. Der Stand der DEMIS-Schnittstelle von Mitte Januar, den ich kenne, war aber auch m. E. n. keine wirklich sinnvoll zu nutzende Schnittstelle, sondern eher eine Alpha-Version davon. Es war also durchaus angebracht, dass hier bei der Schnittstelle noch etwas optimiert wird, was aber die Einführung von DEMIS in SORMAS verzögert.
Ein durchaus valider Grund aber für Gesundheitsämter, Stand jetzt, nicht sofort Hurra zu rufen, wenn SORMAS im Arbeitsablauf diesen wichtigen Teil vermissen lässt.

Fassen wir zusammen: DEMIS = Labortests, auch wenn SORMAS Tests verwalten könnte.

Einschub: Was kann ich tun, damit damit bei meinem eigenen Corona-Test der Ablauf flüssiger geht?

Es mag ungewöhnlich klingen, aber indirekt seid ihr tatsächlich an dem DEMIS-Teil beteiligt:
Solltet ihr in nächster Zeit einen Corona-Test machen, versucht zu verifizieren, dass bei der Teststelle eure Kontaktdaten stimmen.
Bei vielen Krankenkassen könnt ihr eure Kontaktdaten über deren Webinterface anpassen, falls Sie sich geändert haben und nicht mehr aktuell sind – falls für einen Test eure Gesundheitskarte eingelesen wird und diese Daten genutzt werden.
Oftmals werdet ihr in Eurer hausärztlichen Praxis beim Empfang nach der Aktualität dieser Daten gefragt, dort ist es auch immens wichtig diese abzugleichen.
Es kann dann zwar immer noch an der Software bei der jeweiligen Stelle scheitern, aber ihr solltet zumindest auch dafür Sorge tragen, dass eure Daten zumindest korrekt vorliegen.
Denn: Alles was an alten und fehlenden Daten im Moment der Testabgabe an Euren Test angehängt wird, landet ebenso falsch beim Gesundheitsamt. Und falls Euch das dann im Falle einer Infektion erreichen will und z.B. die Telefonnummer fehlt, dauert das länger oder ein Kontakt ist vielleicht gar nicht möglich.

Fälle - SurvNet

Neben DEMIS ist an RKI-Schnittstellen auch SurvNet relevant. Oder anders formuliert: SurvNet ist quasi auch der Client zu DEMIS, das geht eher fließend ineinander über.
Zugang zu SurvNet (der Schnittstelle) gibt es entweder als Desktop-Client für Windows vom RKI selbst (SurvNet die Software) oder von anderen Anbietern – aber ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob das System so direkt "Home Office" kompatibel ist, weil hier viel mit Zertifikaten etc. gearbeitet wird.
Stellt euch Survnet aber auf jeden Fall nicht als komfortable REST-Schnittstelle vor, sondern eher komplizierter, Stichwort Transportdateien und sowas.
Im Prinzip werden in SurvNet dann aus DEMIS-Meldungen (also der Meldung eines Tests) SurvNet-Akten angelegt, die eigentlich in den meisten Fällen positiven Fällen entsprechen.
Solltet Ihr Euch fragen, warum eine DEMIS-Meldung nicht gleich auch immer ein Fall ist und es diese Ebene vielleicht gar nicht braucht: Schon in dem Szenario Schnelltest positiv, PCR-Test positiv, dann Quarantäne, dann PCR negativ zum Aufheben der Quarantäne hängen an einem Fall schon mal drei mögliche Datensätze aus DEMIS.

Ein Aktenzeichen in Survnet hat meist zuerst die Infos aus der ersten DEMIS-Meldung (weswegen da schon die Daten stimmen sollten).

Nun gibt es für COVID-Fälle auch noch Abstufungen: Als labordiagnostisch bestätigter Fall gelten nur PCR-Tests, aber das wird bestimmt auch noch spannend, wenn das mit den Schnelltests irgendwo erfasst werden soll. Weil dann gibt es ja eigentlich keine Labormeldung, weil der Test ja vor Ort und Stelle irgendwo durchgeführt wird und so ein SurvNet-Zugang sicherlich auch nicht überall vorhanden ist.

Wir halten fest: Auch eine Anbindung an SurvNet ist wichtig, weil das die eigentlichen Falldaten sind, die mit dem RKI getauscht werden.

Fassen wir zusammen: SurvNet = Fallinformationen, auch wenn in SORMAS Fälle verwalten werden könnten.

SORMAS ohne SurvNet und DEMIS?

SORMAS ohne SurvNet und DEMIS zu nutzen wäre also gar nicht sinnvoll und ist aktuell auch gerade nicht die Zielsetzung.
In Artikeln, die SORMAS beschreiben, ist aber also zu lesen, dass «mit SORMAS jetzt Tests ohne Fax möglich» wären oder dass «SORMAS DEMIS und SurvNet» ersetzen würde. Jedes Mal, wenn ich sowas lese, frage ich mich, ob bei solchen Artikeln auch nur ansatzweise recherchiert wurde, wie das eigentlich zusammenhängt.
Das Fehlen dieser Schnittstellen erklärt aber schlüssig, warum Gesundheitsämter nicht so ganz happy sind, wenn sie SORMAS ohne fertige Anbindung an SurvNet oder DEMIS nutzen sollen. Oder mit einer Anbindung, die gerade so fertig wurde mit möglichen Kinderkrankheiten. In einer beginnenden weiteren Welle einer Pandemie.

Insellösungen versus SORMAS

In Artikeln zu SORMAS wird oftmals ein schwarz-weißes Bild gezeichnet, als ob es SORMAS gäbe und ansonsten nur Excel oder Papierlisten. Dieses Bild kann ich nicht bestätigen aus meiner täglichen Arbeit.
Unter Menschen, die an der Digitalisierung des Contact Tracing arbeiten, stellst sich im täglichen Betrieb weniger die Frage, was das beste oder das schlechteste System ist, sondern wie dieser ganze Wust an Lösungen sinnvoll miteinander reden kann.
Es gibt viele gute Ideen und Ansätze – auch außerhalb von SORMAS.
Technisch gesehen hätte es dazu auch gereicht, einen Austauschstandard, z.B. eine REST-API zu definieren, mit dem verschiedene Gesundheitsämter Falldaten oder Kontaktdaten austauschen können. Das hätte nicht zwangsläufig bedeutet: Ihr müsst jetzt alle SORMAS nutzen, sondern ihr müsst kompatibel werden.
Aber wahrscheinlich ist so das teilweise undifferenzierte Verständnis von Digitalisierung in Deutschland: «Digital ist es, wenn alle mit dem gleichen Programm arbeiten» – nicht, ob eigentlich alle ohnehin schon über sehr ähnliche Daten verfügen, an deren Datenaustausch es lediglich mangelt.
Denn auch wenn es nicht nach außen so wirkt: Viele Gesundheitsämter haben bereits eigenverantwortlich ohne große Ansagen von Länderregierungen oder Bundesregierung bereits vor November 2020, als der erste Beschluss Richtung SORMAS verabschiedet wurde, volldigitale Lösungen erarbeitet. Mit Schnittstellen zu SurvNet zum Beispiel.

Warum Insellösungen eigentlich entstanden sind und warum Shaming mancher Gesundheitsämter eher unangebracht ist

Zu Beginn der zweiten Welle im August, September 2020 etwa gab es keine Ansage von Seiten der Landesregierung (zumindest in dem Bundesland, in dem ich wohne), wie genau digital mit dem Problem der Kontaktnachverfolgung umzugehen sei. Deswegen kamen manche Gesundheitsämtern eigenständig auf die Idee, nach Lösungen zu suchen, die Zettelwirtschaft abzuschaffen.
Es gab schlicht keine präzisen Ansagen «von oben», wie denn mit dem Contact Tracing umzugehen sei. Währenddessen lief die Pandemie aber wieder an und Gesundheitsämter mussten selbstständig nach einer Lösung suchen.
Deswegen entstanden teils eigene Kontaktnachverfolgungslösungen, teils wurden Kontaktpersonen in SurvNet erfasst (was wohl eher nur so bedingt angenehm, aber zumindest möglich ist), und deswegen kann ich euch das Thema jetzt auch so im Detail erklären.
Nur suggeriert die Bezeichnung Insellösung, als wären das abgeschottete Lösung ohne Verbindung zur Außenwelt. Das ist definitiv nicht der Fall.
Anders formuliert würde ich das eher so sehen, dass viele Insellösungen der Türöffner zum digitalen Contact Tracing in Gesundheitsämtern waren.
Mitarbeitende in den Ämtern mit volldigitalen Lösungen – auch wenn es nicht SORMAS ist – sind bereits in einen volldigitalen Workflow eingebunden und haben jetzt bei einem möglichen Umstieg auf SORMAS – zumindest vom Arbeitsablauf – weniger Probleme.
Möglicherweise sind die Insellösungen selbst aber bereits zu gut geworden, haben Funktionen, die SORMAS nicht hat, sind vielleicht einfacher zu bedienen – kurzum: SORMAS ist vielleicht gar nicht mehr so attraktiv und würde nur Mehrarbeit ohne Aussicht auf substanzielle Verbesserung versprechen. Was gerade im Beginn einer dritten Welle eher auf verständlicherweise wenig Begeisterung stößt.

SORMAS als De-Facto-Austauschstandard

Mit dem Bund-Länder-Beschluss ging nun aber die Entscheidung Richtung: Nutzt alle SORMAS. Das ist zumindest im Sinne von der Entwicklung von Anwendungen dorthin zu begrüßen, dass es damit implizit zumindest einen technischen Standard für Kontaktinformationen gibt – sei es für Check-In-Möglichkeiten oder für Verbesserungen der Kontaktdatenübermittlung außerhalb dem, was SORMAS selbst kann.
Nach meiner Erfahrung ist SORMAS da im Vergleich zu den anderen Anwendungen auf jeden Fall eine bessere technische Basis als die sonstigen Teile wie SurvNet oder DEMIS.
Allein schon aufgrund der Tatsache, dass SORMAS eine REST-Schnittstelle hat, webbasiert ist und Open Source.
Also eigentlich der Standard, den Webentwickler:innen schon seit Jahren kennen – aber wie gesagt, die Ansprüche an andere Anwendungen werden eher gering nach längerer Arbeit in dem Themenfeld digitale öffentliche Infrastruktur.

Was ist denn eigentlich mit der Corona Warn App? Die hat doch jetzt ein Kontakttagebuch?

Kommen wir zur Corona Warn App. Die hat ja jetzt ein Kontakttagebuch. Aus Sicht des Contact Tracing ist dieses Kontakttagebuch aber erst mal nur eine digitale Gedächtnisstütze.
Im Falle einer Infektion sind die Daten, die das Gesundheitsamt wirklich braucht, weitergehende Daten als die im Kontakttagebuch der Corona Warn App.

Wichtige Daten von Kontaktpersonen sind auf jeden Fall:

  • Name
  • Telefonnummer oder zumindest einen Weg, um einen direkten Kontakt herzustellen, und zwar so schnell wie möglich
  • sowie Zusatzinformationen zum Kontext und Art des letzten Treffen, um die Gefahr abschätzen zu können

Speziell die Informationen zum Kontext der letzten Begegnung sind Informationen, die die Corona Warn App gar nicht automatisch erfassen kann, denn diese Informationen setzen einen nachvollziehbaren Kontakt und eine Kenntnis der Kontaktperson voraus.
Die Aufgabe der Corona Warn App ist deshalb eine andere. Die CWA stellt vielmehr eine zweite Ebene des Contact Tracing dar. Die Kontakte warnen, die nicht bekannt sind, flüchtige Begegnungen im Nahverkehr, Kontakte, die eine infizierte Person vielleicht gar nicht wahrgenommen hat.
Begegnungsmitteilungen aus der Corona Warn App sind außerdem vage, sie bieten keine juristische Sicherheit, weil die Bluetooth-Technik dahinter zu unscharf und störanfällig arbeitet.
Die Konsequenz, dass ein Fall eine Kontaktperson ersten Grades benennt ist ja immer, dass die Kontaktperson für einen gewissen Zeitraum in Quarantäne muss. So eine Entscheidung muss sich auch im Zweifel klar bezeugen lassen, zumeist durch die Indexperson.
Die Corona Warn App kann das selbstständig nicht, aber sie kann andere warnen, die eben anders gar nichts von diesem Kontakt mitbekommen hätten, weil sie der Indexperson gar nicht bekannt sind. Natürlich wird die Corona Warn App auch deine Bekannten warnen, die kennt ja den Unterschied nicht. Also seid nicht verwundert, wenn deine Bekannten dann auch noch vom Gesundheitsamt direkt angerufen werden.
Kurzum aber: Eine Aufweichung der Datenschutzkonzepts der Corona Warn App wäre also gar nicht sinnig, weil das schlicht am Konzept und dem wirklichen Zusatznutzen der Corona Warn App vorbei ginge.

Könnte man die Corona Warn App trotzdem aufbohren?

Im Sinne der Kontaktnachverfolgung könnte das Kontakttagebuch der Corona-Warn-App tatsächlich ohne Veränderung des Grundprinzips den Prozess der Kontaktdatenerfassung beschleunigen.

Dazu muss ich vielleicht erst einmal kurz erklären, was im Moment eines PCR-Tests aktuell passiert: Wird ein PCR-Test durchgeführt, werden die getesteten Personen meist in eine Art Vorquarantäne gebeten. Nach Hause gehen, auf das Testergebnis warten. Alles Schritte, die auch über die Corona Warn App kommuniziert werden können.
Den Wartezeitraum könnte die Person aber bereits zum Beispiel dazu verwenden, unter Anleitung der Corona Warn App schon einmal die Kontakte der letzten Tage zusammenzufassen, deren Kontaktdaten zu sammeln, vielleicht sogar bereits eine digitale Struktur aufzubereiten, mit der ein direkter Kontaktdatenaustausch mit dem Gesundheitsamt möglich wäre. Es geht dabei primär um Kontaktpersonen eines eher häuslichen Umfelds, also zum Beispiel Mitbewohner:innen etc., mit denen die Person vor dem Test Kontakt hatte.
In dem Moment des Anrufs durch das Gesundheitsamt lägen Daten dann zumindest schon vorbereitet vor. Es ergibt sich hier vor allem ein Zeitgewinn – und Zeit ist ein entscheidender Faktor bei Infektionsketten.

Aber was ist denn mit Luca und sowas?

Im Zuge der Öffnungsdiskussionsorgien (ich wollte das schon immer mal schreiben) werden Anwendungen wie Luca propagiert. Diese sind von ihrem Grundprinzip her auch sinnvoll, weil sie die medienbruchsfreie und schnelle Übermittlung von Ereignisdaten ermöglichen. Nur muss ich aus meiner Erfahrung sagen, dass die Datenkategorie der Ereignisse in den letzten Monaten keine allzu große Rolle gespielt hat.
Angesichts der Infektionslage war es in den letzten Monaten eher entscheidend, enge Kontaktpersonen und deren Daten zu erfassen – ganz außerhalb von Treffen in Restaurants oder Veranstaltungen, die es in den letzten Monaten ohnehin kaum gab. Die Kontaktdatenerfassung der letzten Monate umfasste also eher Bereiche, in denen kein Check-In über Systeme wie Luca stattgefunden hat oder hätte. Oder hattet ihr an Weihnachten alle brav einen Luca-Check-In gemacht, als ihr eure Eltern besucht habt?
In Zukunft könnte Luca private Zusammenkünfte natürlich auch mit abdecken, sofern es etabliert ist – oder wie auch immer das System heißen wird, das dann dafür präferiert wird.
Schlechte Nachricht: Fertig zur bundesweiten Implementierung ist das Luca-System aber noch nicht.

Aber Luca geht doch nur mit SORMAS?

Nein. Luca ist erst mal für sich eine Datenbank (wieder), die sich wohl an SORMAS einbinden lässt (weil SORMAS ja eine REST-API hat, vorausgesetzt, die Bundescloud spielt mit (sic!)) oder halt an andere Lösungen, die das auch irgendwie per entsprechender Schnittstelle können.
Die vom Kanzleramtschef Helge Braun getätigte Aussage mit «Gateway» zeigt nur wieder das Problem, was schwerfällige Bundes-IT in dem Kontext erzeugen kann: Technisch sind die Schnittstellen und Austauschmöglichkeiten schnell realisiert, nur verkompliziert die Ebene Abstimmung auf Bundesebene und Zertifizierungen und sonstige Auflagen das Vorgehen manchmal unnötig.
Um hier zu differenzieren: Zu einem gewissen Anteil ist hier ein sinnvolles, datenschutzsensitives Vorgehen unabdingbar, nur macht die Umsetzung von Bundesprojekten im Bereich digitales Contact Tracing auf mich selten
den Eindruck, als das hier wirklich einer Pandemie angemessen schnell und flexibel agiert wird.

Aber warum eigentlich so spät?

Ganz ehrlich: ich weiß es nicht. Ich bin in dem Thema jetzt seit August tätig, habe meinen letzten Sommerurlaub gestrichen, um mitzuhelfen, das Contact Tracing eines Gesundheitsamts zu digitalisieren, mitzuhelfen, eine dieser jetzt verpönten Insellösungen zu schaffen, oder anders formuliert: aus der damaligen Sicht eine digitale Rettungsinsel.
Das war im August des letzten Jahres, vor Welle 2.
Jetzt stehen wir vor Welle 3 und eigentlich wiederholt sich die Geschichte ähnlich: Es gibt nun immerhin konkrete Pläne, wie es funktionieren soll, vollständig fertig ist aber nichts. Oder zumindest nicht auf einem Stand, dass ich damit unter Last in einer Pandemie arbeiten wollen würde.
Es ist mir unverständlich, warum im Sommer 2020 nach der ersten Welle niemand in Ruhe festgestellt hat: Genau jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir das Software-Problem des Contact Tracings angehen müssen. Mit allen Parametern und Schnittstellen, die wir damals bereits kannten; so anders sind die Grundparameter heute nämlich nicht - Mutationen sind leichte veränderte Parameter, aber kein komplett neuer Datentyp.
Nach der ersten Welle wäre es mit den Erfahrungen der ersten Welle möglich gewesen, Standards zu definieren. Mit einer Softwarebasis, die es damals bereits gab.
Wahrscheinlich wäre ein bundesweit vernetztes SORMAS mit den Verbesserungen und Erfahrungen der letzten Monate inzwischen eines der effizientesten Kontaktnachverfolgungssysteme weltweit geworden. Nun steht es aber immer noch mit Problemen am Anfang und hängt teils immer noch in der Luft.

Aber wenn wir dann SORMAS mit DEMIS, SurvNet und Luca (o.ä.) haben, dann ist alles gut?

Naja, wir wären schon mal einen großen Schritt weiter.
Denn: Eine medienbruchsfreie, pragmatische, gute, tagesgleiche und zugängliche Lösung zur Erfassung von Kontaktinformationen zu schaffen, war tatsächlich der Grund, warum ich diesen Artikel überhaupt in dieser Ausführlichkeit schreiben konnte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

Nur wird eines bei der aktuellen Euphorie bezüglich Contact Tracing ganz gerne vergessen: digitales Contact Tracing muss auch immer genau so flexibel auf die aktuellen Erfordernisse dieser Pandemie reagieren, wie nötig, sich bereits vor dem Auftreten von Problemen mit diesen beschäftigen, schnell handeln.
Ob es da ratsam ist, ein SORMAS-Netz mit einer gewissen deutschen Verwaltungs-Schwerfälligkeit zu betreiben, muss SORMAS im bundesweiten Betrieb erst noch erfolgreich widerlegen. Ich bin da zumindest mehr als gespannt.

P.S.

Auch wenn ich nun schon eine gewisse Zeit mit ordentlich Herzblut an dem Thema digitale Kontaktnachverfolgung mitarbeite, wünsche ich euch vor allem eins: Bleibt von dieser Pandemie so gut es geht verschont.
Wir alle, die in diesem Bereich arbeiten, wollten eigentlich nie, dass unsere Systeme jemals unter Last gesetzt werden. Stay safe.