Schon wieder keine Revolution

Geschichte, Sprache, Politik, Antifaschismus

Bianca Kastl

Über die übermäßige und oftmals unangebrachte Verwendung der «Machtergreifung»

Jedes Mal, wenn ich heute das Wort «Machtergreifung» lese, bin ich nachher etwas enttäuscht, dass es gar keine Revolution gab. Schon wieder nicht. Schon wieder wurde etwas «Machtergreifung» genannt, was gar kein Putsch oder eine Revolution war. Die letzte «echte» Revolution in Deutschland ist ja auch schon 100 Jahre her.

Der etwas clickbaitige Titel sei mir verziehen, aber warum geht es mir eigentlich:
Eigentlich ging es mir sprachlich um das Narrativ der «Machtergreifung», das aktuell gerade wieder inflationär, oftmals unkritisch verwendet wird. Aber am Ende führt es uns noch auf etwas anderes, aber ich beginne mal mit dem Thema der «Machtergreifung».

Zum Narrativ der «Machtergreifung» im Zusammenhang mit dem 30. Januar 1933

Oftmals versucht die «Machtergreifung» auf den 30. Januar 1933 oder die Zeit danach anzuspielen.
Was ist am 30. Januar 1933 passiert? Nun, Hitler wurde nach damals geltenden Gesetzen legal zum Reichskanzler ernannt.
Das klingt jetzt aber sperrig und wenig Marketing-like, also nannten die Nationalsozialisten das anders.
Sowohl die Begrifflichkeiten «Machtergreifung» als auch «Machtübernahme» (was zur damaligen Zeit oftmals synonym verwendet wurde) sind in dem Kontext stark nationalsozialistisch progragandistisch geprägte Begriffe, auch wenn diese Begriffe nicht unbedingt von den Nationalsozialisten exklusiv verwendet wurden oder werden.

Der Begriff «Machtergreifung» tauchte schon 1923 im Kontext des gescheiterten Hitlerputsches auf. In den durch die bayerische Polizei in München beschlagnahmten Dokumenten der NSDAP (die im Anschluss an den Putsch verboten wurde) befand sich der Begriff in diesem Kontext wohl zum ersten Mal.

10 Jahre nach dem gescheiterten Hitlerputsch waren die Nationalsozialisten also an der Macht – allerdings nicht in Form eines sehr langsam wirkenden Putsches, der in München war sehr schnell gescheitert, sondern auf legalem Wege.

Der Begriff «Machtergreifung» glorifiziert aber den Weg, durch den die Nationalsozialisten in entsprechende Ämter kamen. Die unkritische Verwendung des Begriff «Machtergreifung» ist also eigentlich auch eine Weiterführung der NS-Propaganda.
Denn die «Machtergreifung» spielt sprachlich eigentlich eher auf den Weg eines Putsches an, den es in dieser Form aber nicht gegeben hat.

Die m. E. n. passendere Bezeichnung, wie die Nationalsozialisten an die Macht kamen, liefert Wilhelm Stapel 1932.
Stapel selbst war bekennender Nationalist, Antisemit und Publizist und zu Beginn Freund des Nationalsozialismus.
Er schreibt zum Nationalsozialismus:

Dieser Nationalsozialismus steht nicht als Rechtspartei ganz rechts, sondern er steht außerhalb des Parteiengetriebes und benutzt das Getriebe.
Zitat Wilhelm Stapels in der Zeitschrift «Deutsches Volkstum», 14.6.1932

Über möglicherweise vorhandene Parallelen zu aktuellen politischen Ereignissen möge sich die lesende Person am besten jetzt Gedanken machen.

Letztlich konnten die Nationalsozialisten auf damaliger Reichs - und Landesebene entscheidende Maßnahmen in die Wege leiten, um das System mit dem Mitteln des damaligen Systems auszuhebeln (welches Schwächen hatte, die heute größtenteils behoben sind). Einen großen Anteil daran hatten Notverordnungen nach §48 der Weimarer Verfassung, vieles wurde besiegelt durch Reichspräsident Hindenburg.

Es gab aber von der Ernennung Hitlers bis zur «Gleichschaltung» aller politischen Institutionen einen Weg von mehreren Monaten bis Jahren und keine «Ergreifung der Macht» in einer Handstreich- oder einer Putsch-artigen Art und Weise, wie es die Propaganda durch das Wort «Machtergreifung» glauben möchte.
Arthur Rosenberg, Historiker, der diese Zeit miterlebt hat, taxiert das Ende der republikanisch-demokratischen Phase deutscher Geschichte bereits auf das Jahr 1930. Das Notverordnungsregime Brünings sei bereits eine «Diktaturregierung des Bürgerblocks» gewesen.

Trotzdem war auch gegen Ende des NS-Regimes immer noch eine Verfassung gültig, wenngleich diese durch Verordnungen und Erlasse so zusammengestrickt wurde, dass diese eine Diktatur und ihr Handeln legitimierte. Die Reichsverfassung in der Version des Jahrs 1945 ist eines der bemerkenswertesten Stücke an Ergänzungen, Entfernungen und Änderungen an einer Verfassung, die es in Deutschland gibt / gab. Bruchstückhaft gab es aber auch 1945 immer noch die Weimarer Verfassung.

Lexikalische Verwendung der «Machtergreifung»

verschiedene Dudenausgaben von 1929 bis 1947
Bemerkenswert ist hier – wie bei vielen Begriffen der Sprache des Nationalsozialismus – die lexikalische Verwendung der «Machtergreifung»: Diese findet sich nur in den Duden der NS-Zeit (1934 und 1941), nicht aber davor (1929) oder danach (1947, quasi ein Versuch einer sprachlichen «Entnazifizierung»). Das zeigt auch, dass diese Begriff im damaligen Sprachgebrauch präsent war und danach eher verpöhnt; das gilt auch für die «Machtübernahme».
Verwendung des Wortes «Machtergreifung» nur im Duden von 1934, nicht von 1929
Verwendung des Wortes «Machtergreifung» nur im Duden von 1941, nicht von 1947
Der Begriff ist heute wieder Teil des Dudens, aber mit entsprechendem Hinweis auf die Bedeutung im Nationalsozialismus oder später auch im Kommunismus der UdSSR. Ich persönlich verwende den Begriff ungern, wenn dann nur in Anführungszeichen im historischen Kontext, weil er einfach das politische Wirken im Sinne der Nationalsozialisten glorifiziert.

«Machtübernahme»

Der Begriff Machtübernahme im NS-Sprachkontext ist hier eigentlich synonym, wenngleich er einen etwas engeren zeitlichen Rahmen zieht. Die Machtübernahme ist im Prinzip nur der Zeitpunkt des 30. Januar 1933 als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Hitler selbst verwendet die Begrifflichkeit in seinem politischen Testament, in dem er vom 30. Januar als «Tag der Machtübernahme» spricht.
Klemperer verwendet die «Machtübernahme» in seiner Lingua Tertii Imperii oft in Anführungszeichen und nimmt meist Bezug auf eben diesen 30. Januar.

Heutige «Machtübernahmen»

Warum schreibe ich das überhaupt? Naja, aufgrund der aktuellen politischen Situation in Thüringen fällt immer schnell der sprachliche Vergleich zur «Machtergreifung» der Nationalsozialisten. Meines Erachtens ist das einerseits in vielen Situationen eine unbedachte Reproduktion von NS-Sprech und andererseits auch eine Nummer zu groß.
Es gab keinen Putsch und die sogenannte AfD hat nicht die Macht ergriffen, wohl aber eine neue politische Marke gesetzt. Eine bedenkliche, aber eine, der das demokratische System entgegentreten kann.
Der Begriff «Machtergreifung» schürt im Zweifel mehr Angst als es sinnvoll wäre und lässt wenig Raum nach oben. Die wiederholende Wiederholung von Extrembegriffen wie der «Machtergreifung» führt auf Dauer auch zu einer gewissen Normalisierung dieser Zustände. Zustände, die aber auf keinen Fall normal erscheinen sollen.
Ich bin hier daher für eine etwas gemäßigtere, treffendere Begrifflichkeit.

Andere Vergleiche – Thüringen 1930

Die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der sogenannten AfD zum Ministerpräsidenten lässt sich in der Form nicht mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler damals auf keinen Fall vergleichen, ein ebenfalls naheliegender Vergleich wäre die Situation in Thüringen 1930, als die NSDAP erstmals in ein Landesparlament kam.

Zeitungsauschnitt: «Thüringen hat seine Rechtsregierung», aus: Morgenzeitung, 24.1.1930
Aber auch dieser Vergleich ist in der Form schwierig. Was es damals auch gab: ein wild zusammengewürfeltes rechtes Bündnis gegen eine große linke Partei (die SPD, die damals eigentlich die Wahl gewonnen hatte). Das passt irgendwie erstmal als Vergleich, zumindest auf den ersten Blick. Erwin Baum war damals Vorsitzender dieser Regierung, er gehörte aber nur der zweitstärksten Partei, der «Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei» oder kurz dem Landbund an.

Teil der Regierung waren zwei Minister des NSDAP, Frick als Innenminister und Marschler als Staatsrat ohne Ressort.
Das Handeln Fricks selbst war klar nationalsozialistisch: Er säuberte den Beamtenapparat und besetzte wichtige Posten mit NS-Vertrauensleuten. Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues» wurde in Schulen verboten.
Schulgebete wurden eingeführt gegen die «Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur» und gegen den Versailler Vertrag.

Nun kommen wir aber zu dem historischen Knackpunkt:
Die Baum Frick-Regierung scheiterte nach 14 Monaten, weil es zu einem Misstrauensvotum (am 1. April) gegen die beiden Minister der NSDAP kam.
Im damaligen Parlament in Thüringen waren die Herren der NSDAP auch nicht sonderlich beliebt, sie galten als rechte Pöbler, weniger als gute Demokraten.

Zeitungsauschnitt: «Frick und Marschler gestürzt», aus: Duisburger General-Anzeiger, 2.1.1931
Die Demokratie konnte sich aber damals durchaus erfolgreich zur Wehr setzen. Dennoch konnten zwei einzelnen Minister durchaus nachhaltig einflussreiche Politik betreiben.

Aber auch in Thüringen 1930 gab es keine «Machtergreifung», es gab dort eine Wahl, die in einer für die heutige Zeit ungewöhnlichen Koalition mündete (es gab ab 1930 einige ungewöhnliche Regierungsbündnisse). Eine Regierungsbeteiligung der NSDAP war aber auch damals ein Novum, in gewisser Weise ein Tabubruch.
Aber auch hier kann nicht von einer «Machtergreifung» gesprochen werden, wohl aber von einem ersten gescheiterten Versuch, die NSDAP «durch Regierungsbeteiligung entzaubern zu wollen».
In den Worten der NSDAP wurde die Beteiligung Fricks an der Regierung natürlich nach der «Machtergreifung» groß gefeiert («Der Weg zum Enderfolg»), objektiv betrachtet war das aber ein gescheitertes Experiment.

Zeitungsauschnitt: «Der Weg zum Enderfolg», aus: Westfälischer Beobacher, 23.1.1934

Wie sollen wir das denn sonst nennen?

Um einen Begriff zu verwenden, der die Situation in Thüringen gerade eher trifft, schlage ich mal einen vor: «Zwistdemokratie».
Der sogenannten AfD ist durchaus erfolgreich gelungen, in Thüringen durch demokratisch legale (wenn auch vielleicht ungewöhnliche wirkende Mittel) zwischen den Lagern rechter und linker Parteien – wobei diese strikte, hufeisenförmige Einteilung elementarer Teil des Problems ist – den Zwist oder die Spaltung innerhalb der Parteien weiter voranzutreiben. Und de facto schadet dieses Vorgehen insgesamt der sogenannten AfD nicht, aber vielen anderen Parteien.
Das Vorgehen ist aber etwas Anderes als das der geschichtlichen Vorbilder, auf die ohnehin schon verdrehte Begrifflichkeiten wie «Machtübernahme» anspielen.

Es ist Sand im Parteiengetriebe, um Stapel wieder aufzugreifen, kaputt ist das Parteiengetriebe aber noch nicht. Wir sollten aber darauf achten, dass es nicht kaputtgeht.

Quellen und weitere Informationen

Textquellen

  • Ernst Deuerlein (Hg.), Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923, Stuttgart 1962.

Quellen zur sprachlichen Verwendung

  • Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2. Aufl., Berlin: Walter de Gruyter, 2007
  • Victor Klemperer: LTI. Reclam-Verlag, Stuttgart 2010

Quellen zur lexikalischen Verwendung

  • Der große Duden - Rechtschreibung, Bibliographisches Institut Leipzig, 10. Auflage, 1929
  • Der große Duden - Rechtschreibung, Bibliographisches Institut Leipzig, 11. Auflage, 1934
  • Der große Duden - Rechtschreibung, Bibliographisches Institut Leipzig, 12. Auflage, 1941
  • Der große Duden - Rechtschreibung, Bibliographisches Institut Leipzig, 13. Auflage, 1948

Weiterführende Informationen

Weimarer Republik

  • Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, 16. Aufl, Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1974

Wilhelm Stapel

Thüringen 1930

Primärquellen
  • «Thüringen hat seine Rechtsregierung», aus: Morgenzeitung, 24.1.1930
  • «Frick und Marschler gestürzt», aus: Duisburger General-Anzeiger, 2.1.1931
  • «Der Weg zum Enderfolg», aus: Westfälischer Beobacher, 23.1.1934
Quellen zum Thema Allgemein